Prompt: Neuanfang (01.01.2020) - nachgeschrieben 08.01.2020
Startzeit: 18:15 Uhr
Ende: 19:10 Uhr
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Mit offenem Mund starrt er sie an.
Sie möchte was?
Einen Neuanfang?
Ohne ihn?
Er schüttelt den Kopf und starrt sie an.
Sie steht am Fenster ihrer kleinen Wohnküche.
Die langen schwarzen Haare hängen ihr offen über die Schultern.
Sie hat die Arme verschränkt und ihr Blick ist ernst.
Sein Mund ist ganz trocken und er bekommt keinen Ton heraus.
Drei Wochen haben sie sich nicht gesehen.
Die letzten Semesterferien hat sie in Paris verbracht.
Mit einer Freundin, die sie hier im Wohnheim kennen gelernt hat.
Er hat sie vermisst und sich auf ihr Wiedersehen gefreut.
Am Nachmittag hat er ihr Blumen besorgt und ihre Lieblingsschokolade. Außerdem hat er sich ihren Lieblingsfilm ausgeliehen und vorgehabt, essen zu bestellen. Ein Abend nur zu zweit.
Ja, natürlich, sie war schon vor den Ferien distanzierter gewesen, das ist ihm nicht verborgen geblieben. Aber er hat es auf die stressige Zwischenprüfung geschoben. Obwohl sie ein Stipendium hat, jobbt sie zudem dreimal die Woche. Überhaupt haben sie sich unter der Woche fast nur auf dem Campus gesehen. Ursprünglich ist geplant gewesen, dass sie zusammen nach Hause fahren und dann weiter nach Texel wollten. Aber dann ist die Idee mit Paris aufgekommen und sie hat hier noch etwas Taschengeld verdient.
Nun sitzt er völlig perplex an dem kleinen Tisch und sie lehnt nach wie vor an der Fensterbank.
Bittet ihn, sie zu verstehen.
Die Zeit mit ihm sei wunderschön gewesen.
Meistens auf jeden Fall.
Gut, es sind durchaus ein paar wunderschöne Momente dabei gewesen.
Aber alles im Leben habe nun mal seine Zeit.
Sie müsse den nächsten Schritt gehen.
Ins Leben, nicht weg davon.
Freunde.
Sie wünscht sich, dass sie Freunde bleiben und verspricht, dass sie ihm für ihn da sein wird.
Was soll das dann?
Sie weiß doch, dass er ohne sie nicht leben kann.
Dass er auf sie aufpassen muss.
Er ist doch ihr Beschützer und sie seiner.
Sie gegen den Rest der Welt.
Für immer.
Sie haben es sich doch versprochen.
Damals.
Als sie durchbrennen wollten nach Paris.
Als sie gemeinsam keinen anderen Ausweg mehr sahen, als sterben zu wollen.
Als erst er ihr, dann ihnen beiden immer wieder das Leben rettete.
Was soll das?
Wie soll das gehen?
Sie hat doch nur ihn und er nur sie.
Alle anderen haben sie doch immer wieder verraten, belogen, allein gelassen und nie verstanden.
Aber.
Und dann erzählt sie.
Von ihrer Therapie, die sie heimlich hinter seinem Rücken gemacht hat.
Von den Plänen für ihr Studium, in die er nicht eingeweiht ist.
Von den Menschen, die sie kennengelernt und ihm nie vorgestellt hat.
Dann sagt sie Dinge, die er nicht hören will.
Dass auch er eine Therapie machen soll.
Seine Studienpläne konkreter und egoistischer gestalten muss.
Dass er Menschen in sein Leben lassen soll, sich nicht so isolieren darf.
Sie schmeichelt ihn, lobt sein Talent. Seine Empathie. Seine Hingabe.
Sie sagt, dass er auch ohne sie viel erreichen kann.
Dass es da draußen jemandem gibt, der auch seiner Seele Ruhe gibt.
Auch?
Was bedeutet auch?
Sie druckst herum.
Gesteht, dass sie nicht mit einer Freundin in Paris war.
Er will das nicht hören.
Ausgerechnet Paris.
Sie haben es nie geschafft.
Und nun war sie mit einem anderen dort.
Drei Wochen in der Stadt der Liebe.
Und doch, so behauptet sie, sei nichts passiert.
Soll, darf, kann er das glauben?
Seine Brust wird immer enger und er kann ihre Stimme nicht mehr ertragen.
"Es ist auch eine Chance für dich. Auch für dich ein Neubeginn", sagt sie leise.
Er aber, er hat diesen Neuanfang nicht gewollt.
Er will sie.
Nur sie.
Allein.
So wie es immer gewesen ist.
Sie und er - gegen den Rest der Welt.
Stattdessen lässt sie ihn allein.
Im Niemandsland.
Zweimal fragt sie, ob er dennoch bleiben will. Sie hat Zeit für ihn.
Er möchte nicht.
Zweimal fragt sie, ob sie ihn dann begleiten soll. Sie will sicher gehen, dass er gut Zuhause ankommt.
Sie spricht nicht aus, weiß sie eigentlich meint.
Er möchte nicht.
Zweimal fragt sie, ob sie jemanden für ihn anrufen soll, damit er jetzt nicht alleine ist.
Er hat doch niemanden.
Sie ist seine Welt gewesen.
Er steht wortlos auf und geht.
Lässt sie zurück.
Letztendlich hat auch sie ihn verraten, belogen, allein gelassen und nicht verstanden.
Er gegen den Rest der Welt.
Das hat er nie gewollt.
Mutterseelenallein.