Prompt: Besuch aus der Vergangenheit (15.01.2020) - nachgeschrieben 16.01.2020
Startzeit: 21:00 Uhr
Ende: 21:50 Uhr
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In vollkommener Stille hatte Jan vor dem Grab verharrt. Er war in die Hocke gegangen und hatte die einzelne rote Rose auf der Grabplatte abgelegt. Ganz in Gedanken versunken nahm er die Schritte gar nicht wahr, die sich ihm näherten. Daher erschrak Jan ein wenig, als er die Hand auf seiner Schulter spürte.
»Du heiratest«, hörte er die leicht rauchige Stimme. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Nickend kam er in den Stand und drehte sich langsam um.
»Ich habe das Aufgebot gelesen«, erklärte sie.
»Morgen«, bestätigte er.
Ihr Blick glitt auf die letzte Ruhestätte ihrer Tochter.
»Ich habe mir immer ausgemalt wie Anna in einem Hochzeitskleid ausgesehen hätte.«
All die Träume, die ihr verwehrt geblieben waren.
»Wunderschön«, kommentierte Jan knapp. Wie auch sonst? Es wäre Anna gewesen. Und wie oft hatten sie sich über eine Hochzeit unterhalten. Heimlich am Liebsten. Ohne Publikum. Die Familie und Freunde einfach vor vollendete Tatsachen stellen. Durchbrennen. Nach Vegas. Oder wenigstens Paris. Die Träume zweier verliebter Teenager. Einmal hatte Anna vorgeschlagen, dass sie sich nach einer Vermählung zusammen in Hochzeitsstaat das Leben nehmen könnten. Er hatte das verdrängt gehabt, erst in den Tagebüchern wieder davon gelesen. Und genau diese Erinnerung hatte ihn in den letzten Nächten beschäftigt. Eingeholt.
Inga strich ihm über den Unterarm.
»Sie würde sich für dich freuen«, sagte sie leise. Jan wandte sich ihr zu. Seitdem sie ihm vor eineinhalb Jahren an Weihnachten die Tagebücher in die Hand gedrückt hatte, war er ihr nicht mehr begegnet. Sie sah besser aus. Gepflegter. Ob sie nicht mehr trank?
Seine Mutter hatte einen neuen Lebensgefährten erwähnt.
»Inga, ich muss mich entschuldigen«, murmelte er. Zu seiner Überraschung schüttelte sie den Kopf.
»Es ist in Ordnung, Jan. Vielleicht hätte ich mich früher mit dir in Verbindung setzen sollen. Mir war ja irgendwie klar, dass du ihre Beweggründe nicht kanntest. Und Annas Tod hat dich ebenso wie die Trennung aus der Bahn geworfen. Auch mir ging es damit sehr lange nicht gut, aber jetzt schaue ich vorwärts. Wie du«, erklärte sie.
Über Jans Gesicht huschte ein Lächeln.
»Es geht dir gut?«, wollte er wissen. Nun lächelte auch Annas Mutter. Sie hakte sich unter und gemeinsam gingen sie über den Kiesweg. Wie damals, im Winter. Aufmerksam hatte sie ihn gemustert.
»Ja, sehr gut. Und dir endlich auch, wie ich sehe.«
Sie schlugen den Weg zum Haupttor ein.
»Ich hab verdammt lang gebraucht, aber ja«, antwortete Jan.
»Schau mich an, Jan«, bat sie ihn. Sie blieben stehen. »Es macht mich froh, dich so zu sehen. Das gibt mir ein wenig den Glauben zurück, dass es auch Anna geschafft hätte. Irgendwann.«
Kopfschüttelnd sah Jan die ältere Frau an.
»Nein, Anna war viel stärker. Hätte ihr der Krebs nicht dazwischen gefunkt, hätte sie es uns allen gezeigt.«Immerhin hatte sie sich alleine Hilfe gesucht. Ihr Leben in die Hand genommen. Hart an sich gearbeitet. Es tat immer noch ein wenig weh, dass ihre Mühe schlussendlich umsonst gewesen war. Und wieder fiel ihm ein, wie leichtsinnig er beinahe sein Leben weggeworfen hätte. Inga sah ihn an.
»Wo sie heute wäre?«, fragte sie leise.
Kurz schloss Jan die Augen. Aber im Grunde war es ihm klar.
»Anna wäre heute eine berühmte Pianistin. Sie würde vermutlich durch die Staaten touren, zahlreiche Gastspiele in Europa geben und nur mit den Besten arbeiten«, antwortete er. Er konnte etwas Stolz in Ingas Augen erkennen. Langsam gingen sie über den Vorplatz der Dorfkirche. Morgen würde er wieder hier stehen.
Mit Isabelle.
Um ein Ehegelöbnis abzulegen.
Er atmete durch.
»Es war nicht in Ordnung, euch die Liebe zueinander abzusprechen«, gab sie zu. Seufzend blieb Jan stehen. Er betrachtete die Fassade der Kirche.
»Wer weiß, Inga. Es ist ja nur richtig, dass man glaubt zu lieben. Auf jeden Fall hat sie mir viel bedeutet. Tut es noch. Bis heute. Anna ist mein Schutzengel. Manchmal kann ich sie sehr deutlich vor mir sehen. Ihre Stimme hören. Und ich weiß, was sie mir in manchen Situationen sagen würde. Sie hat in ihren letzten Monaten oft versucht, mir zu helfen.«
Verlegen zwinkerte er aufkommende Tränen weg.
»Vielleicht hat es mich deswegen so verletzt, dass sie mich bei ihrem letzten Gang nicht dabei haben wollte.«
Er schluckte schwer und dachte an das letzte Gespräch.
»Das hätte dir nicht gut getan«, meinte Inga sanft.
Zustimmend wandte er sich ihr zu. »Ja, heute verstehe ich das. Und daran erkennst du gut, wie weit sie gekommen war. Sie hätte es geschafft, ganz sicher«, wiederholte er.
Inga atmete durch und sah ihn nochmal an.
»Du schaffst es auch. Und auch ich freue mich, dass du heiraten wirst. Das Glück steht dir gut. Bewahre es dir«, mahnte sie. Dann zwinkerte sie ihm zu. »Deine Eltern sind unglaublich stolz auf dich.«
Jan lachte. Er hatte zwar nicht gewusst, dass der Kontakt unter ihnen noch bestand, aber es freute ihn.
»Ich bin ihnen ausgesprochen dankbar. Keine Ahnung, wie ich die letzten zwei Jahre ohne sie durchgestanden hätte«, gab er zu. Fürsorglich griff Inga nach seiner Hand.
»Es ist ein großes Glück einen Hafen zu haben. Und einen Ort, an welchem man jederzeit willkommen ist. Und die Liebe von Eltern ist bedingungslos. Aber das kennst du ja«, meinte sie. Kurz biss sich Jan auf die Lippe. Er begleitete Inga noch zur Hauptstraße. Dann nahm er sie in den Arm.
»Ich wünsche dir alles Glück dieser Welt«, sagte er. Sie strich ihm über den Rücken.
»Euch auch. Möge eure Liebe immer stärker sein als die Schatten.«
Einen Moment sah er ihr nach, wie sie mit langsamen Schritten zum Dorfkern ging. Auf einmal wusste er, warum er unbedingt an Annas Grab hatte wollen. Er hatte auf ein Zeichen gehofft, dass er im Begriff war das Richtige zu tun. Und Anna hatte ihm das Zeichen geschickt. In Form ihrer Mutter und deren Worte. Eine Liebe tiefer und stärker als seine Schatten. Ja, die hatte er gefunden. Das hatte ihm Isabelle unzählige Male bewiesen.
Warum aber war ihm Annas Meinung so wichtig? Immerhin hatte sie ihn auch nicht gefragt, als sie mit Manuel zusammen gekommen war. Und dazu hätte er seinerzeit durchaus eine Meinung gehabt. Gut, nicht unbedingt eine Neutrale. Er fuhr sich mit den Händen durchs Haar und sah zurück. Dann setzte er sich in Bewegung. Schlug den Weg zum Elternhaus ein und überdachte das kurze Gespräch. Ja, sie wäre einverstanden mit seiner Wahl. Und nicht weil es um sie ging, sondern um ihn. Denn er war sich sicher. Er liebte Isabelle von ganzem Herzen und es würde keine bessere Frau auf der Welt für ihn geben.
Denn anders als Anna fing sie seine Stimmungen nicht nur auf, sondern bestärkte ihn jedes Mal auch wieder nach Vorne zu sehen. Dabei gab sie ihm Raum und Zeit. Sie respektierte ihn und sein Leben. Nahm seine Emotionen ernst, wenn selbst er es nicht konnte. Er liebte sie nicht nur dafür. Auch war sie seinem Sohn eine liebevolle Mutter. Ein positiver Mensch, der mit beiden Beinen fest auf der Erde stand. Ihn einfing, wenn er mal über dem Boden schwebte oder von einer imaginären Leiter plumpste. Gleichzeitig ließ sie sich auf seine Welt ein. Ließ zu, dass er sie ab und an in seine Träume entführte oder seinen Gefühlen Luft lassen musste.
Jan beschleunigte seine Schritte. Als er um die Ecke bog und durch die Einfahrt in den Innenhof ging, war sein Herz endlich ganz leicht. Er fand seine Familie auf der Terrasse und strahlte, als er das Bild in sich aufsog. Anke und Paul nebeneinander auf der Bank, vor sich ein Fotobuch und eine Kanne Kaffee. Daneben Jürgen und Iris, die sich neugierig die Fotos ansahen. Isabelle in der Hollywoodschaukel mit David, der sich an sie geschmiegt hatte. Offenbar hatte sie ihm vorgelesen. Seine Mutter sah ihm tief in die Augen, als er sich an den Tisch setzte. Dann nickte sie ihm nur lächelnd zu.