Prompt: Eine neue Chance (22.01.2020) - nachgeschrieben 25.01.2020
Startzeit: 10:00 Uhr
Ende: 10:51 Uhr
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Die junge Frau streicht sich die langen, dunklen Haare zurück. Ihr Blick geht immer wieder zu dem hell erleuchteten Fenster im vierten Stock.
Sie hat keine Ahnung wie lange sie schon hier steht.
Der Gang fällt ihr schwer.
Viel schwerer, als sie geglaubt hat.
Dabei ist es unvermeidlich und sie muss heute reinen Tisch machen.
Denn sie will diese neue Chance nutzen, das gefundene Lebensglück genießen und voller Hoffnung in eine Zukunft gehen.
Außerdem möchte sie endlich wieder in den Spiegel sehen können.
Das ein oder andere hat er bestimmt kommen sehen.
So hofft sie jedenfalls.
Immerhin hat sie das letzte Jahr verändert. Ein Rückzug auf Raten. Wenn er ehrlich ist, muss er das bemerkt und sich ebenso seine Gedanken gemacht haben. Aus irgendwelchen Gründen aber, haben sie nicht einmal in den letzten zwölf Monaten darüber gesprochen.
Sie weiß, und das muss sie sich ankreiden lassen, dass ihr Verhalten nicht fair gewesen ist. Schon viel früher hätte sie sich deutlich bekennen müssen, aber sie wollte ihn nicht verletzten. Irgendwas in ihr hat gehofft, dass es wieder werden könnte.
Schon vor den Semesterferien ist ihr aber bewusst geworden, dass es für sie keinen Weg zurück gibt.
Nicht, weil er ihr nichts bedeutet und sie keine Zuneigung für ihn empfindet. Ganz im Gegenteil. Auf eine ganz besondere Art wird sie ihn immer lieber, das weiß sie.
Vielmehr hat sie sich frei gestrampelt aus der gemeinsamen Vergangenheit. Zu viel, was sie beide miteinander in diesen jungen Jahren erlebt haben. Auch daran ist sie nicht unschuldig, ist immer der Motor gewesen. Deswegen ist auch sie es, die die Sache nun endgültig beenden muss. Er wird es nicht tun. Weil er sie nicht loslassen will. Sie hat lange gehadert und fürchtet sich ein wenig vor seiner Reaktion. Es fällt ihr schwer einzuschätzen, wie er das eigentlich alles sieht. Trifft es ihn aus dem Nichts oder ahnt er längst, dass es vorbei ist? Kann er damit umgehen?
Wie sehr sie hofft, dass sie Freunde bleiben können. Denn natürlich fühlt sie sich nach wie vor verantwortlich, so wie er einst ihr gegenüber.
Herrje, sie waren so jung gewesen. Er gerade 16, sie 17. Eine tragische und romantische Teenagerliebe. Mit mehr Tragik als Romantik, zugegebenermaßen.
Sie denkt an den Abend damals am See. An die erste Verliebtheit. Den ersten Kuss im Hochsitz. An ihr beider erstes Mal in seinem Jugendzimmer. An die Idee mit den Herbstzeitlosen. Der verrückte Plan mit Paris. An unzählige Stunden an der Kirchenorgel. An Musik. An Blut. An Tränen und Versprechungen. Für immer – wie naiv sie so doch gewesen waren.
Wie sehr sich das Stärkeverhältnis verändert hat. Sie ist aus ihren Schatten getreten. Hunderte Kilometer entfernt von ihrem Zuhause hat sie den Mut dazu gefunden. Warum sie ihm, der mit ihr hergekommen ist, anfangs nichts davon erzählt hat? Darüber kann sie nur spekulieren. Die Wahrheit mag sie nicht zu Ende denken.
Und nun steht sie vor dem Studentenwohnheim und wappnet sich. Er wartet auf sie. Ihr erstes Treffen außerhalb des Campus seit den Semesterferien. Zeit für die Wahrheit. Die für sie beide eine neue Chance sein kann. Ungern gibt sie gedanklich ihrer Mutter recht, die immer gegen diese Beziehung gewesen ist. Ihr tut euch nicht gut – das waren ihre Worte gewesen. Aber erst jetzt erkennt auch sie, dass der Strudel sie fest im Griff gehabt hat. Beide. Ungesund, fixiert, toxisch. Und trotzdem ist da so viel Liebe in ihr, Sie hat ihn gern und würde ihn gerne beschützen. Doch stattdessen wird sie ihm gleich sehr große Schmerzen zufügen. Ob das egoistisch ist?
Er hat hier niemanden außer sie. Immer noch nicht. Während sie sich in Studentenleben gestürzt und neue Kontakte geknüpft hat, ist er für sich geblieben. Manchmal überlegt sie, ob es autistische Züge sind, die ihn beeinflussen. Ihr wäre wohler, er hätte später jemandem zum Reden. Aber er wird es wie immer machen, so wie es auch sie viel zu lange gehalten hat.
Sie fasst sich ein Herz und überquert die Straße und ehe sie es sich anders überlegen kann, drückt sie den Klingelknopf. Er steht in der Tür, als sie aus dem Auszug steigt und lächelt sie an. Sie kann sehen, dass er sich sehr auf diesen Abend freut. Doch er sieht sofort, dass sie nicht unbeschwert auf ihn zu kommt. Nur zögerlich kann sie ihm in die Augen sehen.
Eine halbe Stunde später fühlt sie sich besser und schlechter zugleich. Sie hat seine Welt in Trümmer gelegt. Nun ist es heraus. Als er sie bittet zu gehen, da wünscht sie sich nichts mehr, als dass auch er es als einen Neuanfang sehen kann. Als eine Chance auf das Leben. Zusammen, das hat sie ihm erklärt, wären sie früher oder später untergegangen. Er bringt sie nicht zur Tür, sitzt schweigen in seinem Sessel. Sie fühlt sich mies und will bleiben. Doch er will davon nichts wissen.
Als sie wieder auf die Straße tritt, ist das Licht im vierten Stock erloschen.
Vorbei, denkt sie. Und neben dem Kummer ist da auch Glück. Eine gespannte Vorfreude.
Tief atmetet sie durch.
Sie möchte doch nur leben.
Zu guter Letzt ist das ihr einziger Wunsch.