Prompt: Bewährungsprobe (15.03.2020)
Start: 18:04 Uhr
Ende: 18:49 Uhr
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Der Druck der kleinen Kinderhand in seiner eigenen wird fester. Schüchtern drückt sich der Zweijährige an seine Beine.
Wie viel Kraft ein so kleines Kind schon haben kann, denkt er amüsiert.
Die blauen Augen sind geweitet und wandern unsicher von einem Fleck zum anderen. Der Lippen hat der Junge fest aufeinandergepresst. Mit der freien Hand hält er sich jetzt an der Jacke des Vaters fest.
Schmunzelnd geht der in die Knie, so dass er dem Sohn auf Augenhöhe begegnen kann. In dem Blick flackert auch Neugierde, aber vor allem eben Unsicherheit. Dabei ist er andere Kindern gewöhnt, spielt ab und an mit Gleichaltrigen im Sandkasten. Aber hier sind es natürlich ein paar mehr, dazu die fremde Umgebung und die unbekannten Erwachsenen.
Es ist der erste Schnuppertag im Kindergarten. Nur für eine knappe Stunde soll er heute bleiben, während Papa in der Nähe bleibt. Bisher hatte der Kleine immer seine Eltern um sich, maximal ein paar Stunden bei den Großeltern war er in seinem jungen Leben ohne sie gewesen. Er ist ein anhängliches Kind. Äußerst schmusebedürftig und etwas sensibler. Woher er das hat, ist dem Vater durchaus sehr bewusst. Deswegen wird es aus seiner Sicht auch Zeit für diese erste Bewährungsprobe. Die Mutter des Kindes hat ganz andere, sehr praktische Gründe im Sinn. Manchmal kommt es ihm so vor, als könnte sie es kaum abwarten, dass der Kurze an den Vormittagen aus dem Haus ist. Warum, das erschließt sich ihm nicht. Immerhin geht sie seit einigen Monaten halbtags wieder arbeiten und er ist es, der mit dem Jungen diese Zeit verbringt.
Klar, auch er ist dafür, dass der Junge selbständiger wird und dem fragilen Selbstbewusstsein dürfte es sowieso nicht schaden. Wäre es nach ihm gegangen, hätten sie noch ein bisschen hiermit gewartet. Andererseits musste man ja heutzutage dankbar sein, überhaupt einen passenden Platz zu finden. Und diesen hier, nein, den wollte auch er nicht aufs Spiel setzen. Immerhin liegt die Einrichtung eines freien Trägers nur wenige Gehminuten von der Mietwohnung entfernt, in die sie kurz vor der Geburt des Jungen gezogen sind. Eine knappe Viertelstunde durch den Park, in dem sich auch der bevorzugte Spielplatz befindet. Außerdem gefällt ihm das Konzept. Kleine Gruppen, besondere Förderung und die Aussicht darauf, dass sie in absehbarer Zeit auch einen Ganztagesplatz erhalten können.
Noch liegt das aber in ferner Zukunft, erstmal geht es um das Eingewöhnen und Akzeptieren der neuen Situation. Nochmal erklärt er dem kleinen Sohn, dass er nur ein paar kurze Erledigungen machen möchte und danach auf jeden Fall wiederkommt. Nun schiebt der Kleine die Unterlippe vor und hält die Hand gleich nochmal fester. Es bricht ihm fast das Herz, als sich erste Tränen in den Kulleraugen sammeln.
Endlich nähert sich die Brünette, die sie schon bei der Anmeldung kennen gelernt haben. Sie ist die Leiterin der Gruppe, in die der Kurze gehen wird. Mit einem warmen Lächeln begrüßt sie Vater und Sohn. Sie zeigt beiden den Garderobenbreich. Ein Fach für die Hausschuhe, Gummistiefel, Wechselkleidung und die Tasche des Kleinen. Darunter zwei Haken für Jacken, auch schon sein Name klebt dort. Daneben das Bild eines Affen, das sich der Kurze als Symbol ausgesucht hatte. Damit es ihm leichter fällt seinen Bereich und seine Sachen zu finden. Auch auf der Brotdose klebt das Bild des Tieres, ebenso an der Trinkflasche.
Etwas unwillig lässt sich der Junge aus der Jacke und den Schuhen helfen, dabei erklärt ihm die Erzieherin schon, dass sie heute neues Lego bekommen haben. Tapfer schluckt der Kleine seine Tränen herunter und wirkt nun zumindest interessiert. Aber kaum, dass er die Hausschuhe angezogen hat, schiebt er seine Hand wieder in die des Vaters. Dabei schielt er aber in die Richtung der Tür zum Gruppenzimmer.
Immerhin, denkt der Vater. Wenn es um Lego geht, ist er häufig Feuer und Flamme. An regnerischen Tagen bauen sie oft stundenlang mit den größeren Steinen, die für die Jüngsten gemacht sind.
Auffordernd hält die Brünette dem Kind nun die Hand hin. Fragt ihn, ob er sich die Spielecke mal ansehen möchte. Ganz langsam nickt der blonde Schopf nun. Und sehr vorsichtig lässt er seinen Papa los und greift nach der angebotenen Hand.
Mit schwerem Herz sieht der Vater dem Kind dann nach, das an der Seite der Erzieherin auf die Tür zu geht. Einen Moment fragt er sich, ob dies nun auch eine Bewährungsprobe für ihn selbst ist. Wie ausgemacht verlässt er das Gebäude und tritt ins Freie. Ein wenig fühlt es sich seltsam an, er möchte automatisch nach dem Jungen greifen. Ein wenig ist er stolz auf den Sohn. Sogar ziemlich, wenn er ganz ehrlich ist. Entgegen seiner Befürchtung hat er nicht angefangen zu weinen oder sich gar gewehrt, als er mitgenommen wurde.Aber warum hat er jetzt einen Kloß im Hals und warum vergeht die Stunde so furchtbar langsam?
Er schlendert zum Markt und muss sich eingestehen, dass der Einkauf ohne Kind viel unkomplizierter ist. Und sehr viel schneller geht. Viel zu früh ist er schon wieder auf dem Rückweg. Im Rucksack auf dem Rücken hat er frisches Obst und Gemüse, es soll am Mittag einen Gemüseauflauf geben. In Zukunft kann er das Mittagessen ungestört vorbereiten, ehe der Kleine wieder abgeholt werden muss. Und wenn es sich eingespielt hat, dann können sie jeden Mittag zusammen als Familie essen, weil dann auch die Mama des Jungen nach Hause kommt. Und wenn er selbst morgens ein paar Dinge mehr erledigt bekommt, dann haben sie am Nachmittag deutlich mehr Qualitytime . Darauf freut er sich, das wird ihnen als Familie gut tun.
Er geht durch den Park und betritt dann zehn Minuten zu früh den Kindergarten. Pünktlich öffnet sich dann die Tür und als der Kurze seinen Vater erkennt, läuft er stürmisch auf ihn zu. Nichts erinnert an das unsichere Kind, da er vor einer Stunde zurückgelassen hat. Er bekommt einen sehr feuchten Kuss auf die Wange, dann plappert auf ungestüm drauf los. Von der Erzieherin erfährt er, dass der Sohnemann am Anfang etwas schüchtern war, dann aber mit zwei Jungen fröhlich gespielt hatte. Nur einmal hatte er nachgefragt, wann der Papa wiederkommen würde. Alles in allem also ein guter Start und sie schlägt vor, dass er morgen schon zwei Stunden bleiben kann, wenn er das auch möchte.
Auf dem Heimweg hüpft der Blondschopf an seiner Hand neben ihm her. Er selbst ist wenig verwirrt ob seiner Gefühle. Ja, es ist gut, dass er sich wohl fühlt und einen tollen Schnuppertag hatte. Aber ein bisschen kommt auch Wehmut auf. Ihm dämmert, dass ab nun auch viele andere Kinder und Erwachsene eine wichtige Rolle im Leben des Jungen übernehmen werden. Das ist gut, das versteht sich von selbst, aber dennoch geht das nun auf einmal sehr schnell.
Als würde der Sohn die Gedanken lesen können, bleibt er abrupt stehen.
Dann strahlen ihn die blauen Augen an.
"Papa, hab dich lieb", meint der Kleine unbekümmert.
Er geht in die Knie, nimmt den Jungen auf seinen Arm und drückt ihn fest an sich.
Ein Meilenstein für den Kurzen.
Und wer konnte denn zu diesem Zeitpunkt ahnen, dass die Entscheidung ausgerechnet für diesen Kindergarten in ein paar Jahren sein ganzes Leben ändern würde?