Prompt: Gänseblümchen (18.03.2020)
Start: 19:35 Uhr
Ende: 20:07 Uhr
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Wenn ich an meine Kindheit denke, dann sehe ich vor allem endlose Wiesen vor mir. So richtig sattgrüne Wiesen, mit Gänseblümchen und Klee, Bienen und Schmetterlingen. Über die wir barfuß tobten, uns im Gras kugelten und stundenlang fangen spielten. Ich kann es riechen, dieses Gras, und ich erinnere mich an Haarkränze, die wir aus den Blümchen machten und an Klatschmohn, der mich immer faszinierte. Wir schaukelten um die Wette, kletterten auf Bäume und versteckten uns in den Büschen. Und manchmal haben wir auf dem Heimweg noch ein Sträußchen für die Mama gepflückt und dabei die Zeit vergessen.
Heute gibt es diese Wiesen nicht mehr.
Nach und nach sind sie verschwunden.
Stattdessen stehen dort nun Wohnhäuser, die mit gepflasterten Wegen verbunden sind und überall wurde Platz für Parkplätze geschaffen.
Einen Spielplatz sucht man dort vergebens.
In den kleinen Gärten zwängen sich Trampolin, Gasgrill und Hollywoodschaukeln dicht an dicht.
Dazwischen dreht der Mähroboter seine Runden.
Unser damaliger Schulweg führte vorbei an den Wiesen, dann herunter zum Fluss und wir mussten nur eine Straße überqueren. Wir sind diesen Weg in der Grundschulzeit jeden Tag gegangen. Ohne Eltern, in kleinen Gruppen, von Anfang an. Heute werden die Kinder in der Kiss & Ride-Station abgesetzt.
Gänseblümchen kann ich nirgendwo entdecken, nur der Löwenzahn sucht sich an allen möglichen Stellen seinen Weg und wird einmal in der Woche herausgerupft.
Es singen nur wenige Vögel, kaum noch Bäume und Büsche bieten ihnen einen Nistplatz oder eine Futterstelle. In diese Betonwüste verirrt sich kein Schmetterling und die Bienen werden verscheucht.
Wehmut macht sich in mir breit.
Ein paar Jahre bin ich nicht hier gewesen und ich traue kaum meinen Augen.
An meiner Hand meine Tochter, die aufgeregt an meiner Hand zieht. Ich habe ihr versprochen, ihr die schönsten Plätze zu zeigen, die mir im gleichen Alter so viel bedeutet haben.
Mir wird schmerzlich bewusst, dass ich mein Versprechen nicht halten kann.
Trotzdem versuche ich mich zu erinnern, wo sich damals der Pfad befand, der zu dem Radweg führte, der parallel zum Fluss verlief. Vielleicht gibt es ja dort noch die kleinen Schrebergärten und die Bänke für die Spaziergänger. Hinter einen solchen habe ich damals meinen ersten Kuss erhalten. Von Carsten. Wir war neun Jahre alt und wollten es unbedingt ausprobieren. Es hat uns übrigens nicht gefallen. Viel spannender war es, am Abend noch ein wenig draußen zu toben. In den Sommerferien hieß es seinerzeit immer nur: wenn es dunkel wird, kommt ihr nach Hause.
Einmal hatten mein Bruder und ich beim Fußball die Zeit vergessen. Unsere Eltern waren im Urlaub, wir 15 und 13 Jahre alt. Als wir schuldbewusst in die Wohnung schlichen, wartete schon unsere Oma auf uns. Niemals habe ich sie so wütend erlebt. Aber gepetzt hat sie es trotzdem nie.
Den Pfad gibt es nicht mehr, aber eine betonierte Treppe, die am Fußgängerweg endet. Heute müssen die Radfahrer links bleiben und die Spaziergänger rechts. Wir gehen langsam und schon nach wenigen Schritten steht man in der Natur. Es sind keine 300 Meter bis zur Brücke und dahinter liegt der Komplex, der die Grund- und Hauptschule beherbergte
Ich erzähle Sophia, dass meine beste Freundin und ich auf diesem Weg an jedem Mittwochmorgen das auswendig lernten, was als Hausaufgabe abgefragt wurde. Nie haben wir uns die Mühe gemacht, es vorher zu lernen. Erste Stunde Religion, bei Frau Kappes, und immer ließ sie uns Psalme, Gebete oder Gedichte aufsagen. Die ganzen vier Jahre lang.
Auf dem leise und sehr ruhig dahinplätschernden Fluss, oder besser Flüsschen, schwimmen zwei Entenpaare neben uns her, die meine Tochter ganz in ihren Bann ziehen. Als wir auf der Brücke ankommen, muss ich ein bisschen schlucken und stehen bleiben. Das Schulgebäude hat sich überhaupt nicht verändert. Ich weiß sofort, wo sich mein Klassenzimmer damals befunden hat und im Geiste sehe ich den Hausmeister vor meinen Augen, der morgens immer das Tor aufschloss.
Es war eine schöne Zeit, die beste meines Schullebens auf jeden Fall.
"Mama!", höre ich meine Kleine rufen und ich schüttele die Erinnerungsfetzen weg.
Die Sechsjährige entblößt beim Lächeln ihre charmante Zahnlücke und hält mir ihre kleine Hand entgegen.
Sie hat Gänseblümchen gepflückt und strahlt mich glücklich an.
Bis heute sind dies meine Lieblingsblumen.
Und sie werden mich immer an diese glückliche Zeit erinnern.