- Start: 04.08.2020 - 16:45 Uhr
- Ende: 04.08.2020 - 17:04 Uhr
"Nanu! Wer bist du denn?"
Die Elfe ließ sich auf die Knie nieder und lugte unter ihr großes Bett. Das Lichtlein, das soeben dauntergehuscht war - als sie den Raum betreten hatte, nämlich -, konnte sie sehen, obwohl es sich in den hintersten Winkel drückte. Es sah aus wie eine handgroße Flamme.
"Hey, keine Angst, Kleines", sagte Lilliya und legte sich flach auf den Boden. "Aber dass du mir da nichts verbrennst, hörst du?"
Allerdings gab es kein Anzeichen, dass das Flämmchen irgendwas ankokeln würde. Unter dem Bett lagen ein paar geringelte Socken und zwei Stapel Bücher, die wohl mal als Lektüre gedacht gewesen waren. Aber Lilliya musste sie irgendwann beim Aufstehen unter das Bett geschoben haben. Außerdem entdeckte sie ihr alte Schachtel, in der sie Federn gesammelt hatte. Vorsichtig schob sie das Gerümpel aus dem Weg, dann zog sie die Hand wieder vor die Brust und sah die Flamme an.
"Was bist du nur?", murmelte sie und krauste die sommersprossengesprenkelte Stupsnase. "So was wie dich habe ich noch nie gesehen. Sag, bist du magisch?" Ihre Augen leuchteten neugierig. "Das bin ich nämlich auch!" Zum Beweis flatterte sie mit den Flügeln auf ihrem Rücken, die das Lichtlein allerdings nicht sehen konnte.
Falls es überhaupt so etwas wie Augen besaß.
Trotzdem hüpfte es vorsichtig weiter vor und Lilliya war sich sicher, dass es sie musterte. Dann flog es plötzlich auf sie zu und umkreiste ihr Gesicht. Lilliya kicherte. Die kleinen Flammenfinger auf ihrer Haut waren nicht mehr als ein zartes Kitzeln, wie die Sonnenstrahlen am Morgen.
"Das ist es! Ich nenne dich Sonnenstrahl!" Sie richtete sich auf die Knie auf und strich Staub von ihrem Rock. "Hast du Hunger, Strahli?"
Irgendwie erweckte das Lichtlein einen hungrigen Eindruck, obwohl sie sich den Grund nicht erklären konnte. Sie sprang auf und begann, ihr Zimmerchen nach Nahrung abzusuchen. Neugierig schwirrte das Licht hinter ihr her.
"Hmm, Papier kannst du offenbar nicht essen. Wie ist es mit Blättern? Oder trinkst du gerne Nektar?" Als sie ihm ein Glas hinhielt, fuhr das leuchtende Wesen allerdings sofort zurück und raste zur Zimmerdecke. "Also kein Nektar. Vermutlich magst du keine Flüssigkeit, wie?"
Sie nahm eine Leuchtkugel in die Hand und drückte sie, worauf das magische Gerät sanft zu schimmern begann. Eigentlich wollte sie damit in den dunklen Schrank leuchten, aber ihr neuer Freund Sonnenstrahl war schneller. Das Lichtwesen sauste zur Kugel, umschwirrte sie mit schnellen Kreisen und flog dann wieder auf. Die Leuchtkugel flackerte einmal kurz, und Strahli glühte hell auf, fast wie ein kleiner Rülpser, wenn Rülpser nicht aus Lauten, sondern aus Licht bestehen würden.
"Verstehe!" Lilliya lachte. "Du isst also Licht!"
Sonnenstrahl hüpfte auf und ab, wie um zu nicken.
"Das ist gut, denn ich habe genug Licht für uns beide", entschied Lilliya. "Du darfst also gerne hierbleiben."
Sonnenstrahl flackerte glücklich auf.
"Aber jetzt ... ich muss leider los, meine Großmutter erwartet mich heute. Willst du mitkommen?"
Zustimmend flog Sonnenstrahl zu Lilliyas Schulter. Also zog die kleine Elfe ihre Schuhe an und flatterte sogleich aus dem kleinen Häuschen, in dem sie wohnte. Junge Elfen ziehen nämlich schon als Kinder in ein eigenes Haus, das aber nicht weit von ihren Eltern entfernt an einer Astgabel hängt, wie alle Elfenhäuser. Und wie alle Elfenhäuser sah Lilliyas Häuschen aus wie eine kleine, wunderschöne Blume, die sich vom Ast eines großen Baumes rankte, mitten unter vielen anderen Blumen. Ihre Großmutter war aber eine Wasserelfe, und ihr Haus war eine große Lotusblume auf dem Teich am Fuß des Baumes. Dorthin flog Lilliya und Sonnenstrahl saß dabei auf ihrer Schulter oder schwirrte um ihren Kopf. Alle anderen Elfen hielten verwundert inne, um Lilliya und ihren kleinen Begleiter zu bestaunen, denn ein solches Wesen wie Sonnenstrahl hatte noch niemand zu Gesicht bekommen. Auch Lilliyas Großmutter war ganz erstaunt, als Lilliya ihr das kleine Leuchtwesen zeigte.
"Das muss ein Irrlicht sein, liebe Lilliya!", sagte die Großmutter und versuchte, das Licht zu fassen, doch Sonnenstrahl hatte keinen Körper.
"Sind Irrlichter nicht gemein?", fragte Lilliya besorgt. "Das kann doch nicht sein, mein Strahli ist furchtbar lieb."
"Nicht alle Irrlichter sind gemein", beruhigte die Großmutter sie. "Das hier ist noch ein ganz kleines. Vielleicht ist es fortgelaufen, weil es nicht gemein werden wollte."
"Ganz ohne seine Eltern?", fragte Lilliya mitleidig.
Sonnenstrahl flog wieder einmal auf und ab, wie um zu nicken, und es flackerte ganz traurig.
"Und dabei ist es in mein Zimmer geflogen, wo ich es gesehen habe, als ich nach Hause gekommen bin!", rief Lilliya aus. "Aber keine Angst, Strahli, ab jetzt darfst du bei mir bleiben."
"Weißt du denn auch, wie du dich um dein Irrlicht kümmern musst?", fragte die Großmutter. "Sie dürfen nicht nass werden und sie essen ..."
"... Licht! Ich weiß, Großmutter!"
Lilliyas Großmutter nickte zufrieden. "Ich sehe schon, bei dir ist das Lichtlein in besten Händen. Gib nur immer gut darauf acht."
"Das werde ich", versprach Lilliya sowohl ihrer Großmutter als auch Sonnenstrahl.