- Start: 20.11.2021 - 22:49 Uhr
- Ende: 20.11.2021 - 23:02 Uhr
Tiefe Schatten lauerten im Gemäuer. Nach der Hitze draußen war die Kälte wie ein erfrischendes Bad und Lenn fröstelte unwillkürlich. Sie war verschwitzt von der Wärme des Sommers. Ihre dünne Kleidung vermochte sie nicht zu wärmen. Deutlich spürte sie die Tränen auf ihren Wangen.
Sie zögerte. Vielleicht war es nicht richtig, was sie tun wollte.
Sie schloss die Augen und hörte das Gelächter wieder.
"Du willst Königin sein? Wieso? Dachtest du, nur, weil du die Erstgeborene bist, steht dir der Thron zu?"
Es war, als würde die Stimme ihres Vaters ihr erneut den Teppich unter den Füßen hervorziehen. Die Härte in seiner sonst so sanften Stimme. Der harsche Spott.
Ihr Leben lang hatte sich Lenn darauf vorbereitet, eines Tages zu herrschen. Und nun sollte Zumin diese Aufgabe übernehmen?
Wo blieb ihre Gerechtigkeit?
Sie marschierte die Wendeltreppe hinauf. Ihre Schritte wurden von dem alten Gemäuer zurückgeworfen. Je höher sie stieg, desto weiter wich die Kälte. Wärme strahlte von oben herab. Als sie sich der oberen Plattform näherte, wurde es noch wärmer als an diesem ohnehin warmen Sommertag. Die Luft war zum Schneiden dick. Lenn keuchte und wurde langsamer.
Hier oben schwebte, in einer Fassung aus gläsernen Spiralen und Kristallen, eine Art goldener Orb. Die Lichtkugel tanzte leicht auf und ab, nur von Luft umgeben, in einem Käfig aus dünnen, silbrigen Linien.
Neue Tränen liefen über Lenns Wangen.
Es war nicht einmal, dass sie ihrem kleineren Bruder den Thron nicht gönnen würde. Aber hätte man sie nicht vorbereiten können? Hätten ihre Eltern ihr nicht wenigstens Mitgefühl zeigen können, statt sie auszulachen, weil sie ein Neugeborenes noch nicht als König sehen konnte?
Wozu hatte sie sich denn all die Jahre abgemüht? Sie hatte immer getan, was ihre Eltern von ihr verlangt hatten. Und es war nur ein einziger Fehler gewesen!
Nun tat ihre Familie, als wäre sie ein Monster.
Schön, wenn es das war, was sie in ihr sehen wollten ...
Lenn streckte die Hand aus. Die Hitze verbrannte sie fast. Ihre Haut färbte sich rot. Dennoch ergriff sie die Kugel, indem sie die Finger darum spannte. Es gab nichts, was sie berühren konnte, doch die Kugel folgte ihren Fingern, als sie zog.
Der Schmerz fühlte sich gut an. Endlich gab es etwas, dass die Verletztheit in ihrer Seele widerspiegelte. Dennoch keuchte sie auf, als die Hitze in ihrer Hand noch zunahm. Sie zog das Gefäß hervor, eine Phiole, die an einem Band um ihre Schulter hing, und schob den Orb hinein.
Ein Donner erklang. Schlagartig wurde es dunkel, als sich dichte, schwarze Wolken über den sonst strahlend blauen Himmel senkten. Das friedliche Königreich wirkte mit einem Mal wie eine der Zeichnungen von sturmgepeitschten Meeren und den Höhlen grausiger Ungeheuer. Die grünen Hügel und die vielen Blumen hatten alle Farben verloren. Die Bauern flohen von ihren Feldern, die Bäume der Wälder beugten sich unter dem plötzlichen Wind, und das schlanke Schloss mit seinen spitzen Türmen erinnerte plötzlich an die Klauen eines riesigen Untiers, throne mit düsterem Blick über den sonst von Licht erfüllten Ländereien des Sommerreichs.
Die Schleusen des Himmels öffneten sich und große Eisklumpen klatschten auf die Erde, so dicht, dass die Welt rasch in ihrem Strom ertrank. Ein grimmiges Lächeln legte sich auf Lenns Lippen.
Nun sah die Welt so aus, wie sie sich fühlte.