- Start: 20.08.2019 - 14:58 Uhr
- Ende: 20.08.2019 - 15:55 Uhr
Er fühlte sich absolut hilflos. Verdammt, die Küche versank im Chaos. Feiner Mehlschnee hatte die Berge bedeckt, doch darunter waren kleine Fetzen Teig, zerplatzte Eier und eine Pfütze Milch zu sehen. Am Küchenschrank klebten Sahnetropfen in einer schönen Linie wie Blutspritzer in Splatterfilmen. Er hätte auf Mom hören sollen, als sie ihn vor dem Sahnesteif gewarnt hatte.
Und jetzt? Jo würde in einer halben Stunde kommen - 28 Minuten! - und die Küche sah aus wie ein Schlachtfeld. Der penetrante Geruch nach Schwefel erinnerte ihn daran, dass er die Eier aus der hintersten Kühlschrankecke genommen hatte. Von der Decke tropfte irgendwas. Die Vorratsschränke waren inzwischen leer, es war Sonntag, und Patrick hatte seiner Freundin einen Geburtstagskuchen versprochen.
Mit den mehligen Fingern fuhr er sich durch die Haare. Die Rezeptseite war irgendwo im Chaos verschwunden. Ha! Darüber machte er sich jetzt also Sorgen? Er hatte ohnehin nichts mehr, um einen zweiten Kuchen zu versuchen, solange er das Mehl nicht vom Boden auffegte. Er musste würgen, weil der Geruch der faulen Eier immer schlimmer wurde. Wankend wie ein Soldat in der ersten Schlacht kämpfte er sich zum Fenster vor und riss es auf. Keuchend lehnte er sich nach draußen und saugte die frische Luft gierig ein.
"Patrick? Um Himmels Willen, was ist denn dir passiert?"
Er hob den Blick und sah seine Nachbarin von Gegenüber, deren Dackel dummerweise just jetzt im Vorgarten unter seinem Fenster sein Geschäft erledigte.
Wie war noch gleich der Name der Frau? Er kannte ihr bleiches, von kinnlangen, dunklen Haaren umrahmtes Gesicht, denn es spähte scheinbar immer zwischen den Gardinen hervor auf die Straße. Bereits dreimal hatte sie ihm die Polizei auf den Hals gehetzt, weil er einen Millimeter über der Parkplatzeinzeichnung parkte oder die Musik 'zu laut' war ...
Doch wie hieß sie?
"Geht es dir gut?", fragte die Frau nach und musterte ihn besorgt von oben nach unten. Er blickte an sich herab. Mehl auf dem teuren Anzug, ein wenig Ei tropfte ihm aus den Haaren, teigverschmierte Arme ...
Er seufzte. Schlimmer konnte es ohnehin nicht mehr kommen. "Ich backe."
Sie reckte ihre überlange Nase, um über seine Schulter hinweg in die Küche zu spähen. "Sieht aus wie ein Schlachtfeld."
"Das ist so eine Kunstform", brummte er und machte Anstalten, das Fenster zu schließen. "Ausdruckskochen."
"Dann muss es dir aber ziemlich scheiße gehen", warf die Frau ein. Sie stellte sich bequemer hin. Verflixt, sie wollte labern. Hatte sie denn sonst niemanden zum Reden?!
"Ich muss hier wirklich aufräumen", sagte er entschuldigend. "Meine Freundin kommt ..." Er sah auf die Uhr. Noch 24 Minuten!
Zu seinem Entsetzen brach die Nachbarin in Gelächter aus. Nein. 'Gegacker' traf es vielmehr.
"Ohhh, diese kleine, süße mit den roten Haaren?"
"Braun. Und sie ist nicht meine Freundin nur ... eine Freundin."
"Ich weiß. Ich hab gesehen, wie ihr auf dem Sofa sitzt und an dieser Daddelkiste spielt. Wie am Hofe die Prinzessin mit ihrem Freier, wenn die Anstandsdame hinter ihnen steht! Hör mal, Jungchen, ich kann dir helfen. Kein Problem." Die Nachbarin zog an ihrer Leine, um ihren fetten Dackel auf Patricks Wohnungstür zuzubewegen.
"Ich ... helfen?", stammelte er überrumpelt. Er hatte eher damit gerechnet, dass sich die Botschaft von seinem Kochunglück über sämtliche Hundebesitzer der Stadt verbreiten würde, sobald ihm die neugierige Nachbarin den Rücken gekehrt hatte. Morgen würde es sein Vater wissen, ein überzeugter Katzenmensch, der inzwischen irgendwo auf den Malediven wohnen musste.
"Komm, Oskarchen, komm ..." Die Frau watschelte ein wenig auf dem Weg zur Tür. Patrick war so verwundert, dass er vorbehaltslos den Öffner betätigte und seine Nachbarin hereinließ. Er hatte sie sich immer als hagere, verhärmte Frau vorgestellt, doch sie hatte eher einen birnenförmigen Körper. Und sie war kleiner, als er gedacht hatte.
Mit einem kritischen Blick sah sie sich um und bemerkte den gedeckten Tisch. "Oh je, oh je ... Du ziehst jetzt mal Jacke und Hemd aus und bürstest die auf dem Balkon aus. Dann wirst du Messer und Gabel schon auf beide Seiten der Teller legen, und nimm diese Servietten weg, die gehen gar nicht! Und feg die trockenen Blätter zusammen."
"Aber ... das ist doch eh alles egal, hast du die Küche gesehen?", widersprach er.
Sie hob den Zeigefinger. "Lass die Küche mal meine Sorge sein! Wo hast du Besen und Kerhblech?"
"Ähm ... Ich nehme immer einen Pappteller, mein Kehrblech ist kaputt, da bin ich mal draufgetreten."
Sie seufzte. "Na, egal, ich komme auch ohne zurecht. Los, den Anzug, Junge, bevor das Ei festtrocknet!"
Gehorsam eilte er auf den kleinen Balkon. Dieser lag an der Vorderseite, Wohnzimmertür und -fenster und das Küchenfenster lagen an der Wand, die zum Balkon gehörte. Er kehrte dem Küchenfenster den Rücken, zog Hemd und Anzugjacke aus und begann, sie mit der Hand abzuklopfen. Das Ei hatte ein paar Flecken auf dem Schulterstück hinterlassen, doch nachdem er sie mit dem Daumen abgekratzt hatte, war kaum noch etwas zu sehen. Das Hemd war tatsächlich nur dem Mehl zum Opfer gefallen. Nach etwa zehn Minuten sah es wie neu aus.
Er wollte zum Wohnzimmer gehen, als die Tür bereits geöffnet wurde. Seine Nachbarin sah heraus und warf ihm einen feuchten Lappen zu. "Die Arme, Junge. Und deine Schuhe! Mensch, man backt doch nicht im Anzug!"
"Ich weiß ...", murmelte er und wusch die Teigreste von seinen Armen und den Lederschuhspitzen. Dann rubbelte er seine Haare trocken.
Als er ins Wohnzimmer trat, sah die Nachbarin wieder aus der Küche. "Geh ins Bad und mach deine Haare ordentlich."
"Aber ... die Küche ..."
"Und denk daran, den Tisch gleich noch richtig zu decken."
Er gab sich geschlagen und trottete mutlos ins Bad. Keine Viertelstunde mehr, und Jo wäre da. Es war unmöglich, dass er jetzt noch etwas gerettet bekäme.
Der Dackel quetschte sich mit ins Bad, schnupperte an seinen Schuhen und sprang dann so ungeschickt in die Badewanne, dass Patrick grunzen musste. "Na, Oskar? Wir sind beide Loser, was?"
Der Hund sah ihn an, als er seinen Namen hörte, wedelte mit dem Schwanz, dass der runde Bauch wackelte, und schnupperte dann wieder am Abfluss. Das Tappsen der Pfoten in der Badewanne begleitete Patrick, während er sich die Haare machte, sie mit etwas Gel wieder in Form brachte und sich dann kritisch mitsamt Anzug im Spiegel betrachtete. Er fühlte sich so fremd in der förmlichen Kleidung! Der Mann im Spiegel sah aus wie ein Loser, der unbedingt einen Abend lang schick erscheinen wollte.
Er ließ die Schultern hängen. Jo würde ihn sofort durchschauen.
Jemand klatschte im Wohnzimmer. "Warum ist denn der Tisch noch nicht fertig? Patrick!"
Er rannte los und fühlte sich einen Moment wie ein Schuljunge, der zu spät zum Unterricht war. Dass er ausgerechnet die Hilfe dieser Hexe annahm! Aber hatte er eine Wahl gehabt?
Sie hatte seine Servietten bereits entsorgt und dunkelgrüne Weihnachtsservietten aus irgendeiner Schublade ausgegraben. Jedoch hatte sie die mit Schneemännern bedruckten Ränder abgeschnitten, sodass Servietten im Miniaturformat herausgekommen waren. Sie passten tatsächlich besser zum roten Tischtuch als die vorherigen im dunklen Lila.
Mit heißen Ohren sortierte er Gabel und Messer und sah dann auf die Uhr. Noch zwei Minuten ...
"Gut, Oskar und ich gehen dann." Die Nachbarin winkte und nahm ihren fetten Dackel an die Leine. "In einer Minute solltest du den Kuchen rausholen, Handschuhe liegen schon da."
"Moment ... was?! Kuchen?!"
Die Tür fiel ins Schloss. Seine Nachbarin war fort.
Ungläubig ging Patrick in die Küche. Sie war blitzblank, als hätte es hier niemals eine Mehlschlacht gegeben. Im Ofen stand ein Kuchen. Apfelkuchen, soweit er erkennen konnte. Hoffentlich mochte Jo den ebenso gerne wie Schokokuchen!
Ungläubig nahm er die Ofenhandschuhe auf und zog sie mechanisch über. Wann hatte seine Nachbarin das alles geschafft? Konnte man überhaupt in zwanzig Minuten einen Kuchen backen? Und noch dazu ohne Zutaten?! Oder hatte sie irgendwas gefunden, oder das Mehl wiederverwendet?
Patrick starrte seine Küche an. War das überhaupt seine Küche?
Noch eine Minute. Er bückte sich, öffnete die Klappe und hustete, als ihm warme Luft entgegenschlug wie eine Faust. Dann zog er den Kuchen heraus, der wunderbar duftete. Fast auf der Stelle lief ihm das Wasser im Munde zusammen. Er hatte heute Morgen vor lauter Nervosität nichts essen können und dann stundenlang in der Küche gestanden.
Und jetzt - die wichtigste Zutat! Er suchte nach dem kleinen Kästchen, in dem er die Eintrittskarten zusammengefaltet bewahrte. Er hatte es auf den Tisch gestellt ...
Es war fort! Die Karten zum Spiel, das er mit Jo sehen wollte, waren weg! Das wäre ihr erstes Date gewesen - wenn sie zugestimmt hätte. Das war sein Geschenk!
Er fuhr sich durch die Haare. Hatte diese schreckliche Hexe in ihrem Putzwahn etwa sein Geburtstagsgeschenk für Jo vernichtet? Er könnte brüllen, wenn er ihr nicht verdankte, dass die Küche nicht länger nach Schwefel roch.
Es klingelte. Das Schrillen ging wie ein Stromstoß durch seinen Körper.
Jo war da! Er rannte zur Haustür, drückte auf den Öffner, riss die Tür zum Flur auf.
"Hallo." Es kam weniger lässig über seine Lippen, als er es sich gewünscht hatte. Er war von dem kurzen Sprint außer Atem. Oder vielleicht lag es an etwas anderem.
Jo war atemberaubend schön. Sie hatte kastanienbraune, kurze Haare, die im richtigen Licht wie Feuer glühten. Sommersprossen, nur ganz wenige, und diese unglaubigen, tiefgrünen Augen. Heute trug sie einen schräg geschnittenen, schwarzen Rock und ein rotkariertes Hemd, die Ärmel zu den Ellbogen hochgekrempelt. Eine Mischung aus Gothik und Holzfäller. Es stand ihr unglaublich gut.
"Hey!" Sie warf den Kopf lässig auf die Seite, um eine Haarsträhne aus der Stirn zu kriegen. "Sag mal ... was riecht denn hier so gut? Hast du etwa gekocht?!"
"Wie versprochen!" Er grinste.
"Und das Haus steht noch?" Sie war bei ihm angekommen und begrüßte ihn mit einer kumpelhaften Umarmung. Er hätte sie gerne etwas länger festgehalten.
"Es war sehr knapp. Komm rein!"
Mit geweiteten Augen registrierte sie den gedeckten Tisch. "Ist heute irgendwas besonderes?"
"Dein Geburtstag! Setz dich, na los!"
Er begleitete sie zu ihrem Platz und schob ihr sogar den Stuhl hin. Sie kicherte. "Kerzen? Wer bist du, und was hast du mit Patrick gemacht?"
"Ich bin ein Bodysnatcher und ich habe ihn eliminiert", antwortete er auf dem Weg in die Küche. Ihre Erwiederung schluckte sie herunter, als sie den Kuchen sah.
"Ohhh! Apfelkuchen? Und den kann man essen?"
"Ich hatte die Hilfe einer Nachbarin dabei. Eine wahre Hausfrau - er kann also gar nicht ungenießbar sein."
"Eine Nachbarin? Ich dachte, die kannst du alle nicht leiden."
Er verteilte den Kuchen und berichtete ihr dabei vom Küchenschlachtfest und der unerwarteten Hilfe.
"Im Grunde habe ich also nichts geschafft, das war alles sie ... Oh mann, und ich weiß nicht einmal ihren Namen."
Jo hatte den Kopf auf die Hände gestützt und kaute einen Bissen von ihrem zweiten Stück Kuchen. "Aber allein, dass du dir die Mühe gemacht hast - für mich! Patrick, das war echt lieb von dir - Au!"
Sie zog die Brauen zusammen und fasste sich an den Mund.
"Jo! Alles gut? Hast du dir wehgetan?"
Sie hielt sich eine Hand vor den Mund und spuckte etwas in die andere. Dann runzelte sie ihre Stirn. In der Hand hielt sie eine kleien Schatulle, nicht viel größer als eine Daumenspitze.
"Deine gute Fee hat offenbar ihre Pillendose oder so vergessen."
Doch Patrick fühlte sich wie elektrisiert. "Da ist sie also hin! Ich fass es nicht! Jo, mach sie auf, bitte!"
Sie sah ihn überrascht an, dann klappte sie das Kästchen auf. Ihr offenbarte sich ein vielfach gefalteter Zettel, den sie herauspulte und entfaltete.
Ihre Augen weiteten sich. "Die Weltmeisterschaft? Du hast ... wie bist du daran gekommen?!"
"Meine Mom kennt jemanden, der jemanden kennt. Aus einem Fanclub, die dürfen doch immer vorbestellen. Also ... willst du mit mir hingehen? Als ... als ..." Er brachte das Wort kaum heraus. Jo starrte ihn an und hauchte: "Als Date?!"
Patrick schluckte und nickte. "Wir können natürlich auch so hingehen!", beeilte er sich, zu sagen. "Du musst nicht ..."
"Ja!", unterbrach ihn Jo. "Liebend gerne."
Er musste vor Erleichterung breit grinsen. "Danke!"
"Ich danke dir! Das ist das tollste Geburtstagsgeschenk in diesem Jahr!"
"Oh, stimmt - du hast mir noch nicht erzählt, was du sonst so bekommen hast."
Jetzt, da die große Frage hinter ihm lag, konnte er sich endlich entspannen und ganz auf Jo konzentrieren. Innerlich strahlte er vor Glück.
Und an einem Fenster im Haus gegenüber starrte ein von kinnlangen, dunklen Haaren umrahmtes Gesicht nach unten. Die Nachbarin sah die beiden Turteltäubchen beim Abendessen sitzen, dann, wie sie in das angrenzende Schlafzimmer gingen, um auf der Playstation zu spielen.
Normale Menschen hätten die beiden in dem Raum auf der anderen Seite der kleinen Wohnung nicht mehr sehen können, nachdem Patrick die Zimmertür geschlossen hatte. Die Nachbarin sah weiter zu, kraulte ihren Dackel Oskar - der gleiche Name, den auch ihr Ehemann getragen hatte, nachdem die ein oder andere Frau, die man beim Hundeausführen traf, sie immer noch fragte - und lächelte in sich hinein.
"Heute back ich ... morgen brau ich ..."
Patrick wusste ihren Namen immer noch nicht.