- Start: 13.10.2021 - 20:23 Uhr
- Ende: 13.10.2021 - 20:57 Uhr
Es war einmal, dass die Welt aus dem Gleichgewicht geraten war. Ein schreckliches Übel war erschienen, und es hatte ein Ende der Welt ergriffen und sie auf den Kopf gestellt. Nun ging der Mond am Tage auf und die Nächte waren taghell. Die Flüsse flossen aufwärts. Die Bäume erschienen als mächtige, alte Riesen und schrumpften zeit ihres Lebens zu winzigen Setzlingen. Alles Leben begann im Alter und wurde immer jünger, bis es verging, und der Regen fiel von der Erde in die Wolken.
In jener Welt lebten zwei Brüder, der Schneehase und der Graufuchs. Sie wollten das große Unglück nicht dulden und sannen darauf, das große Übel zu finden und zu vernichten. Ihre Freunde und Familien sagten ihnen, dass sie dies nicht schaffen könnten, doch der Schneehase und der Graufuchs zogen los, und bald kamen sie an eine mächtige Burg, die eine große Bibliothek hortete. Und dort, in den Tiefen zwischen den Regalen, suchten sie die Weisen auf, die die Werke sortieren. Leise baten sie um Weisung, wie die Welt zu retten sei. Die Gelehrten nun suchten und grübelten, sie blätterten und lasen, sie verglichen und interpretierten, und endlich fanden sie eine Lösung.
"Um das Gleichgewicht wieder herzustellen", sagten sie, "brauchen wir einen mächtigen Helden, der das große Übel zerstört."
"Wo finden wir einen solchen Helden?", fragte der Schneehase.
"Nun, es gibt drei Dinge, die ein Held sein muss! Er muss mutiger sein als jeder andere. Er muss guten Herzens sein, freundlich und hilfsbereit. Und er muss stark sein. Findet jemanden, der in allen drei Prüfungen besser abschneidet als jeder andere, und ihr habt den Helden gefunden."
Der Schneehase und der Graufuchs dankten den Weisen und dann riefen sie alle Tiere zusammen. Jedes Tier kam, vom Größten zum Kleinsten, und die beiden Brüder verkündeten ihnen, dass sie einen Wettbewerb abhalten würden, wer von ihnen der mutigste, der freundlichste und der stärkste wäre.
Die erste Prüfung war die des Mutes, und viele Tiere sprachen vor.
"Ich bin mutig", sagte das Erdmännchen. "Denn ich bekämpfe die schnelle Schlange und den giftigen Skorpion."
"Ich bin mutig", sagte der Vogel. "Ich bin ein Freund des Krokodils und des Nilpferds und ich spiele der Katze meine Streiche."
"Ich bin mutig", sagte die Wespe, "denn ich steche alle meine Feinde, egal, wie groß oder klein."
Darauf stellten der Hase und der Fuchs ihnen ihre Prüfung, die war, dass die Tiere in einen finsteren Raum treten mussten, um sich dort allen ihren innersten Ängsten zu stellen, und bald hörte man Klagen und Zittern aus jenem, doch viele Tiere bestanden sie.
Die zweite Prüfung war die der Freundlichkeit, und wieder sprachen viele vor.
"Ich bin freundlich", sagte das Schaf, "ich tue keinem Tier etwas zuleide, sondern biete nur weiche Wolle."
"Ich bin freundlich", sagte der Elefant, "zu groß wie klein. Denn bei meiner Größe muss man lernen, besonders freundlich zu sein."
"Ich bin freundlich", sagte der Hund. "Ich freunde mich mit allen Tieren an, die ich treffen. Und ich - EICHHÖRNCHEN!"
Darauf stellten der Hase und der Fuchs ihnen die Prüfung, wie sie im Buch der Weisen beschrieben war, und sie bestand daraus, dass jedes der Tiere jedem anderen einen Gefallen tun sollte. Wie war das ein Laufen und Flitzen allüberall, als jeder zu jedem rannte. In dem Chaos wurden einige übersehen, und manche gaben erschöpft auf, doch noch einige Tiere bestanden auch diese Prüfung.
Die dritte Prüfung nun war jene der Stärke, und nur noch einige Tiere sahen sich ihr gewachsen.
"Ich bin stark", sagte der Wal. "Einen stärkeren als mich werdet ihr nicht finden."
"Ich bin stark", sagte der Tiger. "Ich kämpfe furchtlos für meine Freunde."
"Ich bin stark", sagte der Bär. "Meine Stärke ist weithin gefürchtet."
Und Fuchs und Hase stellten wieder die Aufgabe, welche war, einen mächtigen Berg anzuheben. Doch ausnahmslos jedes Tier, das die bisherigen Prüfungen bestanden hatte, scheiterte, und auch jedes andere, das sich daran versuchte. Entmutigt gaben die Tiere aus und der Schneehase und der Graufuchs traten zurück zu den Weisen, um sie um Rat zu bitten.
"Es gibt zwei, die noch nicht geprüft wurden", widersprachen die Gelehrten. "Ihr beide, Schneehase und Graufuchs, habt die Prüfung noch nicht abgelegt."
Das erstaunte die beiden sehr. "Wir können nicht die Helden sein!"
"Und doch habt ihr die finstere Höhle der Ängste durchstanden, denn ihr habt jedes Tier hineingeführt und wieder hinaus, ohne eurer eigenen Angst zu erliegen. Und ihr habt die Prüfung der Freundlichkeit bestanden, denn welche größere Freundlichkeit gäbe es, als dieser mutige Versuch, die Welt wieder ins Gleichgewicht zu bringen? Los nun, stellt euch der Prüfung des Berges."
So traten der Schneehase und der Graufuchs unter den Berg und mühten sich, ihn anzuheben, doch sie waren zu schwach. Die Tiere, die sich hoffnungsvoll um sie versammelt hatten, senkten die Blicke gen Boden und ein kleines Mäuslein hauchte: "So ist es wohl vorbei mit der Hoffnung."
Da stemmte der Schneehase die Pfoten in den Boden und in seinen Augen glühte etwas auf, und mit einem Mal hob er den ganzen Berg ganz alleine an. Voll Staunen sahen die anderen Tiere ihm zu und konnten kaum glauben, was sie da sahen. Die Kraft des Schneehasen indes stammte von seinem Willen, den Tieren zu helfen, und eine größere Stärke fand sich nicht auf der Welt.
Da nickten die Weisen zufrieden.
Begleitet nur von seinem treuen Freund, dem Graufuchs, brach der Schneehase alsbald auf, um das große Übel zu besiegen. Dieses war ein mächtiger, schwarzer Wolf, verzerrt vor Gier. Der Schneehase und der Wolf rangen drei Tage und drei Nächte miteinander. Wieder und wieder schnappte der Wolf nach dem Hasen, doch dieser schlug Haken und schlug seinen Widersacher zurück, und letztendlich besiegte er ihn.
Der Jubel war groß, als ihm das gelungen, doch wich er bald Zweifel. Denn die Welt war immer noch aus dem Gleichgewicht.
Der Schneehase und der Graufuchs kehrten zu den Weisen zurück.
"Wie kann ich die Welt wieder ins Gleichgewicht bringen?", fragte der Schneehase.
Die Gelehrten sahen traurig zu Boden. "Dies ist nun die letzte Prüfung. Denn wisse, die Welt war im Gleichgewicht, für einen kurzen Moment, und dann kippte sie auf die andere Seite. Zuerst war das Böse übermächtig, doch dieses wurde besiegt. Nun aber ist das Gute übermächtig, und das ist ebenso schlimm."
"Ich verstehe", sprach der Schneehase leise. "Die Zeit des mächtigen Helden ist um."
"Was soll das heißen?", fragte der Graufuchs leise.
Der Schneehase aber blickte ihn an und bat: "Besiege mich."
"Ich?", fragte der Fuchs.
"Ja, mein Freund, du. Dies ist deine Prüfung der Stärke. Diese Welt braucht keinen Helden mehr, sie braucht ein Gleichgewicht, und dieses kannst du ihr bringen."
Der Graufuchs weigerte sich lange, doch als er das Leid von draußen vernahm, und die Stimmen der traurigen Tiere, wusste er, dass er handeln musste.
"Ich werde dich nicht besiegen", sprach er dennoch. "Denn dann hätte ich alle drei Prüfungen bestanden und wäre der Held. Doch nein, ich will diese Prüfung nicht bestehen. Ich will absichtlich versagen. Und doch werde ich das Gleichgewicht zurückbringen!" Mit diesen tapferen Worten brach er auf und lief bis zum Ende der Welt, und dort, an der Kante, fand er den mächtigen Wolf. Dieser war besiegt, doch nicht getötet, und lauerte am Rand der Welt auf eine Möglichkeit zur Rückkehr. Der Graufuchs nun streckte seine Pfote aus und zog den Wolf zurück auf die Welt.
Im gleichen Moment kehrte das Ungleichgewicht sich um. Die Flüsse flossen wieder zum Meer und alles Leben begann jung und wurde alt. Als der Graufuchs aber zurückkehrte, sah sein Freund der Schneehase ihn wütend an und die Weisen schalten ihn: "Was hast du getan? Du hast das Böse zurück in unsere Welt gelassen."
"Ich tat, was richtig war. Wenn ich Frieden nicht ohne meinen Freund haben kann, so will ich keinen Frieden haben. Ihr sagtet, nur ohne Gut und Böse wäre die Welt im Reinen, doch mit Gut und Böse ist sie es ebenfalls, und das ist der Weg, den ich wählte. Es war eine egoistische Tat, eine böse Tat, doch zum guten Zwecke. Dergleichen ist das Wesen des Gleichgewichts."
Die Weisen sahen die Wahrheit in diesen Worten und ließen den Graufuchs ziehen. Jedoch der Schneehase, der bereit gewesen war, jedes Opfer zu erbringen, konnte dem Graufuchs dessen Entscheidung nicht verzeihen, wusste er doch, dass der Wolf seinetwegen weiter jagen konnte. So trennten sich die beiden Brüder und der Graufuchs war traurig, seinen Freund verloren zu haben, doch glücklich, dessen Leben gerettet zu haben. Und in dieser Weise war auch er im Gleichgewicht.