- Start: 05.10.2020 - 17:49 Uhr
- Ende: 05.10.2020 - 18:19 Uhr
"Wolf! Wolf!"
Etwas Pinkes und sehr Aufgeregtes rüttelt mich aus dem Schlaf.
"WOLF!"
"Was denn?", murmele ich verschlafen und blinzel hoch.
Misa beugt sich über mich, ein breites Lächeln auf dem von zerzaustem, blondem Haar umrahmten Gesicht. "Es regnet!"
Ich gähnte erst einmal herzhaft und strecke mich, ehe mir bewusst wird, dass ich gar nicht mehr im Fell stecke und meine Verrenkungen vermutlich eher albern aussehen. Misa hat davon allerdings nichts mitbekommen - sonst würde sie mich noch in einigen Jahren damit aufziehen! Sie ist bereits aus dem Zimmer geflitzt und ich höre ihre Schritte auf der Treppe zum Obergeschoss.
Schlaftrunken tappse ich von meinem Platz auf Misas Sessel zum Fenster. Ich sehe sofort, was sie meint: Es regnet auf diese sanfte, tröpfelnde Art und Weise, die ich einfach nur liebe! Und Misa offenbar auch. Das überrascht mich nun doch etwas, denn die Menschenmädchen aus der Oberstadt hatte ich anders eingeschätzt. Mutter hat immer gesagt, die Reichen wären verweichlichte, verzogene Gören, die sich vor allem Natürlichen ekeln.
Ich höre Misas Stimme durch das gesamte Haus schallen: "Paps? Dürfen Wolf und ich nach draußen?"
"Was? Nein, auf keinen Fall, wenn ihn jemand da draußen sieht, einen Cereceri ..." Marc kann nicht zu Ende sprechen.
"Wir nehmen auch die Leine mit und sind ganz vorsichtig."
"Es ist viel zu riskant, für dich genauso wie für Phosphor. Und der Wahlkampf deiner Mutter ..."
"Danke, Paps!" Ich höre Schritte nahen. Diesmal klingen Misas Schritte lauter, sie läuft nicht länger auf Socken, sondern in Schuhen.
"Misatyra Luminor, ich sagte nein!"
Ich stecke den Kopf aus der Tür. Misa kommt den Flur entlang gelaufen, mit der einen Hand hält sie eine flatternde Leine in die Höhe. Sie grinst breit und macht kleine Luftsprünge. "Schnell, Wolf!"
Sie rauscht an mir vorbei. Ich werfe einen zögerlichen Blick zur Treppe, an deren Absatz Marc erscheint. Er seufzt resigniert und macht eine ungeduldige Kopfbewegung in meine Richtung. "Na los, renn ihr schon nach - und pass auf sie auf."
Ich nicke ernst, lasse mich auf vier Pfoten fallen und sprinte zur Haustür, wo Misa mich bereits erwartet. Ich lasse zu, dass sie mir ein Halsband samt Leine umlegt, dann huschen wir beide durch die Tür.
Der nasse Boden ist kühl unter meinen Pfoten. Mein dichtes Fell schützt mich vor der Nässe, aber Misa legt den Kopf in den Nacken und schließt genießerisch die Augen. Ihr blondes Haar flattert im Wind. Sie trägt einen rosa Rock und weiße Kniestrümpfe, darüber ein weißes Hemd, auf dem Regentropfen schnell dunklere Flecken hinterlassen.
"Komm, Wolf!" Misa hüpft los und ich renne neben ihr her. Während Misa sorglos in jede Pfütze springt, kann ich nicht umhin, nervös zu schnuppern. Die Gerüche der Oberstadt sind alle noch so fremd für mich. Da gibt es exotische Gewürze und duftende Blumen, Parfum aus fernen Winkeln der Welt, von Orten, deren Namen ich nicht einmal kenne. Dafür ist der Schlick des Sumpfes am fuß des Berges, in meiner Heimat allgegenwärtig, hier oben kaum wahrnehmbar.
Misa führt mich zielstrebig durch weiße, ordentliche Straßen, vorbei an Häusern, die unten, in den Ruinen, wahre Paläste wären, hier hat aber fast jeder so ein Haus - oder ein viel größeres. Die Gärten, in deren geräumigen Wiesen wie Nahrung für zwanzig Pflanzenfresser hätten züchten können, wachsen Zierbüsche, Stauden und schlanke Bäumchen.
Schließlich biegt Misa von der gepflasterten Hauptstraße und in einen kleinen Park. Hier wächst das Gras endlich wieder bauchhoch, während es überall sonst sorgfältig gestutzt war. Dunkelholzige Kirschbäume verteilen sich im hohen Gras, ihre weißen Blüten sind zwischen die dunklen Halme gefallen und trudeln wie Schnee in der Luft. Der Regen wäscht alle Gerüche bis auf den Blütenduft fort.
Als wir hinter hohen Hecken verborgen sind, nimmt Misa mein Halsband ab.
"Aber sag das nicht Paps. Er wird sowieso fuchsteufelswild sein."
Ich sehe mich unsicher um und stoße ein leises Winseln aus. Ich fühle mich nicht wohl dabei, ohne Halsband herumzulaufen. Es braucht nur einer der Reichen misstrauisch werden und einen Blick auf meine allzu menschlichen Augen werfen und ... ja, was würden sie nur mit mir machen? Ein Cereceri, der sich in die Oberstadt einschleicht, erhält bestimmt grausige Strafen. Und Misa und Marc würden ebenfalls bestraft werden. Und zu allem Überfluss würde Misas Mutter Veela, die Politikerin ist, und sich für uns Tiermenschen einsetzt, garantiert ihren Wahlkampf verlieren. Eine Katastrophe!
"Hab keine Angst, Wolf." Misa kennt mich vielleicht erst drei Wochen, aber sie kann mich in Hundegestalt bereits lesen wie eines ihrer Bücher. "Bei Regen geht hier niemand vor die Tür. Wir haben den ganzen Park für uns!"
Ich wedele leicht mit dem Schwanz.
"Komm, du kannst dich auch zurückverwandeln!"
Ich lege verneinend die Ohren an. Viel zu riskant!
Misa lässt mir meine Wahl und beginnt, in langsamen Kreisen durch das feuchte Gras zu tanzen. Kirschblüten setzen sich in ihr Haar. Ich folge ihr zunächst zögerlich. Doch als sie lacht und sich immer schneller dreht, kann ich nicht anders, als um sie herumzuspringen.
Der Regen wird etwas stärker und wir tanzen lachend hindurch, bis Misa völlig außer Atem ist. Keuchend lässt sie sich ins Gras sinken und ich lege mich hechelnd neben sie.
Nachdenklich spielt sie mit meinem Fell. "Deshalb liebe ich den Regen so. Man ist für sich. Es ist irgendwie ... friedlich."
Ich lege den Kopf auf ihrer Schulter ab. Oh ja, ich liebe den Regen auch. Wenn ich konnte, bin ich jedes Mal auf die Klippen geklettert, bis zu meinem Geheimplatz, wo man sitzen und die Ruinen betrachten kann.
Neugierig hebe ich den Kopf. Der kleien Park liegt am Rand der steilen Klippen, wo der Berg zu den Ruinen abfällt. Ich trotte durch das Gras bis zum Rand und setze mich.
Dort unten, in dem schlammig-grünen Moosteppich am Rande des Sumpfes, liegen die Ruinen. Meine Heimat. Die Slums der Cereceri, wo meine Mutter sich gewiss fragt, was aus mir geworden ist. Wenn sie wüsste, dass ich mich ausgerechnet mit ihrem erklärten Todfeind, den Reichen, herumtreibe! Aber Misa und ihre Familie sind gar nicht so schlimm, wie Mutter immer gesagt hat.
Ich sehe auf das chaotische Flickwerk von Hütten herab, die sich an den Fuß des Berge drängen. Leise setzt sich Misa zu mir und legt den Arm um meine Schultern, ehe sie den Kopf auf mein Fell bettet.
"Wolf? Lass uns beste Freunde sein, ja?"
Ich klopfe bestätigend mit dem Schwanz ins Gras und wuffe einmal.
Misa krault mein Nackenfell. Schweigend sehen wir in den sanft fallenden Regen und lauschen dem zarten Prasseln. Am Himmel tritt die Sonne hinter den Wolken hervor und zaubert einen blassen Regenbogen über das Sumpfland vor uns.
Kirschblüten und -duft treiben durch die Luft und ich weiß, dass wir beide einander trotz aller äußerlichen Unterschiede so unglaublich ähnlich sind, dass es an ein Wunder grenzt.