- Start: 30.09.2020 - 16:37 Uhr
- Ende: 30.09.2020 - 16:55 Uhr
Am schwarzen Ufer spülen Wellen gegen schmelzendes Eis. Dräuend heben sich die Klippen in dichten, weißen Nebel, der den gesamten Himmel verschluckt hat. Dunkelblau ist die See und weiß die Klippen. Zwischen den Muscheln recken sich einige wenige, frühe Blumen zu dem Licht, das der Sonne hinter dem Nebel entstammen muss. Doch Strand und Meer, so scheint es, sind von der Welt abgeschnitten durch diesen dichten Wolkenwall, ein Kokon, in dessen Innerem sich bereits neues Leben regt.
Barfuß im Sand folgt ein kleines Mädchen der Küstenlinie. Ihr Haar ist hell und blond, ihre Augen dunkelgrün. Sie tanzt mit der angespülten Gischt und den schwindenden Eisschollen, und wo sie geht, da heben neue Triebe ihre Köpfe aus der Erde.
Möwen kreischen im Wind über den Klippen. Es ist ein wirbelnder, scharfer und kalter Wind, der das blaue Kleidchen des Kindes fasst, doch sie lacht und weicht seinen reißenden Fingern aus. Weit draußen im Meer singen Wale ihr klagendes Lied.
Schließlich hält das Mädchen an und bückt sich zu einer wunderschönen, bunten Muschel hinab. Lächelnd hebt sie sie auf und gegen das Licht. Da bricht ein Sonnenstrahl durch den Nebel und genau auf das Farbenspiel der Muschel, sodass ihr Inneres leuchtet wie der Gesang der Musen.
Das Mädchen lässt die Muschel sinken und hebt den Kopf. Ihre Stunde ist da.
Aus dem zurückweichenden Nebel tritt ein Junge, mit braunem Haar und Kleidung in reinstem Weiß. In seinen Händen trägt er eine weißliche Knolle, frisch ist die Erde daran. Nur ein winziger grüner Keim hat sich aus der Zwiebel erhoben. Vorsichtig wie ein Vogelküken legt der Junge sein Geschenk in die Hände des Mädchens. Da regt sich die Pflanze mit einem Mal, ihre Wurzeln treiben aus und ein strahlendes Schneeglöckchen blüht unter dem Blick der beiden auf. Es ist auch, als würde es ein zartes Klingeln ausstoßen, als es sich sanft im Wind wiegt. Tief und wallend lockt der Ruf des Wals zum Tanz.
Mit allen Händen umfassen Junge und Mädchen die Knolle und setzen sich in Bewegung zum Gesang der Möwen, die hoch über ihren Köpfen mit dem Wind spielen. Der Nebel wird zurückgedrängt und offenbart wachsendes Grün auf den Spitzen der Klippen. Das Meer ist so blau wie die Sehnsucht und zieht die Schritte der Kinder zu sich her. Doch leicht wie Wellenschaum gleiten die beiden über die Wogen. Da verweben sich das Rauschen der See und der Gesang des Wals, die Lieder der Möwen und das Plätschern am Strand zu einem zarten Weckruf, der den Nebel verscheucht und die Welt zu einem neuen Tanz auffordert, einem Tanz, dem jeder folgen darf, von klein zu groß, von Frühling zu Winter, von Wind zu Wasser.
Dies ist die Stunde der Neugeburt, die Zeit des Erwachens. der Tag des schmelzenden Schnees. Aus Dunkelheit kehrt eine neue Wärme zurück, und die goldenen Strahlen der Sonne durchbrechen die dichte Wand des Nebels, um sich zurückzuholen, was rechtmäßig ihrem Strahlen gehört. Die Zeit des Wartens ist vorbei.
Unter dem Himmel und über dem Meer geht der Tanz fort, ein Lied für die blaue Sehnsucht und die Süße des Lebens, ein Lied, das einen zarten Trieb in unbändige Macht zu verwandeln vermag. Unter dem wachsamen Blick eines großen, stillen Beschützers tragen die Kinder ihr kostbares Gut hinaus in den hellen Horizont. Und so erweckt der Frühling die Welt.