- Start: 08.11.2021 - 13:50 Uhr
- Ende: 08.11.2021 - 14:16 Uhr
CN: Abweisung
"Du bist echt komisch", sage ich lachend.
Meine Worte bereue ich im nächsten Moment, als sich Dylans Augen verdunkeln, fast, als würde eine Tür sich schließen.
"No offense, Kumpel." Ich boxe ihm gegen die Schulter, und er lächelt wieder. "Lass uns was zu fressen suchen."
Er folgt mir die Straße herunter, weg von dem Stripcafé, auf das er keinen Bock hatte. Verrückter Kerl! Aber, wenn ich ehrlich bin, mag ich ihn genau dafür.
"Yo, Sean, du bist dran."
Ich zucke zusammen. "Okay, sofort." Als ich die Flasche drehe, kommt sie mit dem Flaschenhals auf Dylan deutend zum Liegen. Ein paar der Mädchen seufzen enttäuscht.
"Wahl, Wahrheit oder Pflicht?", frage ich Dylan.
In seinen grünen Augen blitzt es zweifelnd. "Wahrheit."
"Feigling!" Aber kann man es ihm verdenken? Der letzte, der Pflicht genommen hat, sitzt noch im Papierkorb, mit einer Augenbinde. Und die Mädels verlieren bei dieser Aufgabe Kleidungsstück um Kleidungsstück. Die Luft im engen Wohnzimmer ist stickig und heiß, und alles ist angetrunken, grölt und lacht.
"Also, Wahrheit!" Mist, was nehme ich da? Ich habe mir ein paar tolle Streiche ausgedacht. Nun, dann muss es wohl so ein Standartding sein. "Sag mir, wen aus diesem Raum hier du am heißesten findest!"
Dylan zuckt zusammen. Mehrere Mädchen halten sich kichernd die roten Plastikbecher vor die Gesichter. Bleibt sein Blick da an einer hängen?
"Das ist eine dumme Frage", sagt er.
"Komm schon. Sei kein Weichei." Was hat er nur?
Dylan steht auf. "Ich muss jetzt nach Hause." Ehe ihn einer aufhalten kann, ist er gegangen. Die Tür schlägt hinter ihm ins Schloss.
"Ha! Nimm meine Banane, du Lusche!" Ich drücke auf die Knöpfe des Controllers, als das Bild plötzlich einfriert. "Ey, Alter ...?"
Dylan starrt auf seinen eigenen Controller.
"Was ist? Ich wusste nicht, dass du ein schlechter Verlierer bist!" Mario Kart. Der Scheiß zerstört Freundschaften.
"Sean ... kann ich dir etwas sagen?"
"Alles, Mann." Ich lege den Controller weg. Das hier klingt ernst. Aber er kam mir den ganzen Tag schon so merkwürdig vor. Vermutlich hat er mich nur besucht, weil er was loswerden wollte.
"Okay, aber ... also ... du musst mir schwören, dass du es nicht weitererzählst."
Warum ist er bloß so nervös? "Du hast mein Wort, Kumpel. Und jetzt raus damit!"
Stattdessen steht Dylan allerdings auf und schließt meine Zimmertür, ehe er sich umdreht und tief durchatmet. "Also, folgendes: Ich bin ..."
"Schwul?!", brüllt Dylans Vater. "Erst willst du keinen Ferienjob, und jetzt bist du auch noch eine verdammte Schwuchtel? Was fällt dir als nächstes ein?"
Ich wäre am liebsten gar nicht da. Dylan zieht den Kopf immer tiefer zwischen die Schultern. Ich stehe im Türrahmen zum Wohnzimmer und fühle mich hilflos. Er hatte mich gebeten, mitzukommen, als emotionale Unterstützung. Bloß - wie soll ich ihn unterstützen?
"So fühle ich mich eben ...", murmelt er leise.
"So fühlst du dich? Was ist mit dem da?" Sein Vater deutet auf mich. "Hast du es etwa mit dem getrieben? Hat der dir diese Flausen in den Kopf gesetzt?"
"Nein! Sean ist nur ein Freund."
So, wie sich Dylans Vater aufführt, hätte ich aber nicht übel Lust, selbst schwul zu werden, und sei es nur, um zu sehen, wie dem alten Arschloch die Augen aus den Höhlen treten. Aber selbst das würde Dylan nicht helfen.
"Du verdammter Nichtsnutz!", brüllt er Dylan an. "Geh mir aus den Augen, du Schwein, bevor ich mich noch vergesse."
"Dad ..."
"Nenn mich nicht Dad! Du bist nicht mein Sohn."
Einige Beleidigungen später fällt die Tür hinter uns ins Schloss. Dylan hat eine Sporttasche in den Händen, die er aus seinem Zimmer retten konnte, ein blaues Auge und kämpft gegen die Tränen an. Sein Vater wollte ihn nicht einmal in sein Zimmer lassen, um etwas Zeug zu packen.
"Du kannst heute Nacht bei mir pennen", biete ich an.
"Ich will dir nicht zur Last fallen." Dylan sieht weg. Er schämt sich dafür, was er ist.
"Das ist doch kein Problem! Ich hab das neue Call of Duty. Damit lenken wir dich ab."
"Sagst du mir jetzt, wohin wir gehen?"
"Du siehst es ja gleich!", erwidere ich lachend.
Dylan seufzt traurig. Er ist immer noch geknickt. Bei uns kann er nicht mehr bleiben, weil meine Mutter von ihrer Geschäftsreise zurückkehrt und wir keinen Platz mehr haben. Er macht sich Sorgen. Nach Hause will er nicht zurück. Das würde ich an seiner Stelle auch nicht wollen, obwohl sein Vater inzwischen täglich vor der Schule steht und versucht, mit ihm zu reden. Dylan hat es auch versucht, aber sobald das S-Wort fällt, rastet sein alter Herr wieder aus. Dylan darf nur zurück, wenn er sich diesen 'perversen Unsinn' aus dem Kopf schlägt, sagt er.
Von der Haltestelle aus sind es noch etwa dreihundert Meter, dann stehen wie vor einer fast unscheinbaren Tür in einem Reihenmietshaus. An der Tür hängt ein Schmetterling in Regenbogenfarben. Eigentlich unauffällig, bis Dylans Blick auf das Klingelschild fällt.
"Ist das ...?"
"Ein Wohnheim. Ich hab mir denen gesprochen, es wäre noch ein Platz frei." Ich grinse schief. "Die können dir da sicherlich besser helfen als ich."
Hinter der Tür erklingt Gelächter und das Geräusch schneller Schritte. Kinder, die Fangen spielen, vermutlich.
"Wie, ein Platz frei?"
"Du kannst einziehen. Wenn du willst, heißt das." Ich sehe ihn ernst an. Das muss ein ziemlicher Schock für ihn sein. Allerdings hat er schon häufiger von solchen Heimen gesprochen, seitdem er sich mir gegenüber geoutet hat. Seine Pläne sind nur nie konkreter geworden.
"Ich werde dich natürlich besuchen. Stell dich erst mal vor und guck, wie es dir gefällt. Aber es wäre vielleicht eine gute Option, wenigstens für eine Weil..." Ich kann nicht weitersprechen, da Dylan mich in eine feste Umarmung zieht.
"Danke!"
"Für dich immer." Ich klopfe ihm auf den Rücken.
Durchatmend wendet sich Dylan der Tür zu.
"Die sind super nett", ermutige ich ihn. "Mich hätten die auch beinahe aufgenommen, bevor ich erklären konnte, dass ich weder trans noch schwul noch sonst was bin." Ich lache nervös.
Dylan klopft. Die Tür öffnet sich. Dahinter ist es hell und bunt, und ich erhasche einen kurzen Blick auf die neue Welt, die er nun betritt. Ein bisschen beneide ich ihn ja schon ... Aber wie gesagt: Ich werde ihn besuchen.