- Start: 29.09.2020 - 20:03 Uhr
- Ende: 29.09.2020 - 20:22 Uhr
Die alten Kastanien seufzen im Griff des kühlen Windes. Knarzend wiegen sich die Stämme im aufziehenden Sturm, der die Haare der jungen Frau flattern lässt. Die ersten schweren Tropfen klatschen auf die Erde, auf trockenes, totes Laub und die stacheligen Früchte der Bäume.
Es ist eine schlanke, dunkelhaarige Frau in einem herbstblattroten Gewand, die am düsteren Tor zum nächtlichen Wald steht.
Dies ist ihre Stunde.
Barfuß, als würde die Kälte nicht existieren, tritt sie auf den in Schatten gehüllten Pfad. Ihre Schritte auf dem dunklen Moos und den zerklüfteten Felsen verursachen kein Geräusch. Der Saum ihres Kleides schleift über die verfärbten Blätter.
Zu beiden Seiten des Pfades begleiten Eichhörnchen ihren Weg hinein in den stummen Hain, in den dunkleren Schatten folgen Füchse, dann ein Bär ...
Der Weg leitet sie sicher durch die Nacht und den heulenden Wind bis zu einer großen Lichtung. Keilförmige Felsen ragen aus dem Gras wie die Rippen eines gefällten Riesen. Der Vollmond beleuchtet das Steinrund, lässt den Regen auf Halmen und Zweigen glitzern.
Auf der anderen Seite tritt noch jemand aus dem Dunkel des Forsts: Ein Mann, dunkelhaarig, dunkelhäutig, gekleidet in Gold und Feuerrot. Eine große Sonnenblume in den Händen kniet er vor der Schwarzgelockten nieder. Ringsum heult der Sturm, doch das Steinrund scheint im Auge des Orkans zu liegen.
Zarte, schmale Finger ergreifen die Blume und stecken sie in das dichte Lockenhaar der Frau. Sie lächelt.
Der Mann steht auf und lädt sie mit einer Verneigung zum Tanz. Furchtlos ergreift sie seine Hand. In diesem Moment schlagen Flammen ringsum aus der Erde, recken sich fauchend in den Himmel, aus dem die ersten Blitze zucken. Sie bilden einen Kreis um die moosüberwucherten Felsen und hüllen die Nacht in flackerndes Licht, als die beiden zu tanzen beginnen. Das Kleid bauscht sich und offenbart Unterröcke in allen Farben des Herbstes. Zu einer Musik, die nur sie hören, tanzen sie wild und ungezügelt durch den Flammenring. Der Donner grollt wie das Hämmern von Trommeln und die alten Kastanien beugen sich knarzend und seufzend wie die Fiedel des Teufels. Die Regentropfen in den Flammen zischen wie heller Gesang. Jenseits der Flammen erglühen unzählige Augen eines stummen Publikums aus den Tieren des Waldes.
Dies ist die Stunde von Flamme und Blatt, da die Tänzer des Herbstes sich an diesem heiligen Ort zusammenfinden. Wirbelnd und lachend feiern sie die Lebendigkeit, derer man sich nun gewiss wird, da sie schwindet.
Als der Sturm abklingt, sind die Tiere fort, die Flammen spurlos verschwunden, die Tänzer nirgendwo zu sehen. Nur die Kastanien seufzen noch leise im Takt des Lieds. Ihre Blätter verfärben sich zu den Farben ihrer Herrin und ihres Königs. Still und hoheitsvoll verharrt die Welt, gebannt in der Macht des Flammentanzes ehrt sie die Sturmkinder. Und so trägt der Herbst sein Festgewand.