- Start: 29.11.2020 - 22:35 Uhr
- Ende: 29.11.2020 - 23:31 Uhr
~ Für White Moon ~
Mit freundlicher Hilfe von Brokilu.
White Moon schlenderte leise pfeifend vom Luftschiffhafen herab auf den Innenhof der Grauen Burg. Es schneite leicht und der Wind pfiff über das Gestein hier oben über Belletristica. Doch so leicht ließ sie sich nicht von ihrer Aufgabe abbringen!
In der Hand hielt sie einen vom letzten Monat gezeichneten Zettel. Das Papier war zerknittert und hatte ein paar ominöse dunkle Sabberflecken direkt neben den wölfischen Bissspuren.
Moon trat durch das große Tor der Burg, durch leere Hallen in das gemütliche Kaminzimmer und suchte den Wolf. Als sie Marv nirgendwo entdecken konnte, zuckte sie bedauernd mit den Schultern. Sie heftete den Zettel an eine Schale Brotchips auf dem Kaffeetisch vor dem Sofa, direkt neben den Adventskranz, bei dem eine Kerze bereits angebrannt war. Dann machte sie sich auf den Rückweg.
Sie war noch nicht weit gekommen, als ein pfeifendes Windgeräusch erklang. Ein kalter Luftzug rauschte ihr entgegen und in das Kaminzimmer hinter ihr.
Dann folgte ein leises: "Ups."
Neugierig geworden ging Moon zurück und spähte in das Zimmer. Ein Fenster stand nun offen und ließ kalten Wind und Schneeflocken herein. Dahinter lag ein weites, schneebedecktes Feld und darüber der Sternenhimmel der aufziehenden Nacht. Die Vorhänge bauschten sich und schlugen gegen das rote Sofa vor dem Fenster. Moons Blick fiel auf die Brotchipsschale und - der Zettel fehlte!
"Oh nein!", hauchte sie. Der Zettel war wichtig! Marv musste unbedingt daran denken, seine Wörter für den NaNoWriMo einzutragen - und wie sollte er das ohne ihren abendlichen Zettel schaffen?
"Ich wars nicht!", piepste die gleiche Stimme wie eben.
Moon senkte den Blick und erkannte einen kleinen Otter auf dem Boden vor dem offenen Fenster. Xenon lag auf dem Nacken, die Hinterpfoten neben den Ohren, offenbar nach einer unbequemen Landung.
Moon eilte zu ihm und setzte den kleinen Otter auf die Füße. Verwirrt musterte sie die zerbrochenen Zahnstocher und Servietten auf dem Boden. "Was ist passiert?"
"Mein Drachen hat sich irgendwie nicht steuern lassen!", klagte Xenon. "Der hat sooo super funktioniert, bis er dann nicht mehr funktioniert hat."
"Dein Drachen?" Moon hob eine Serviette auf und bekam einen üblen Verdacht. "Hast du versucht, damit zu fliegen?!"
"Nicht nur versucht! Die ersten Paar Meter hat es geklappt!", prahlte Xenon stolz.
Moon spähte nach draußen. "Bist du einfach vom Turm gesprungen?"
"Am Boden kann man ja nicht fliegen!" Xenon schüttelte entgeistert den Kopf.
"Aber das probt man doch über einer Matratze!", schimpfte Moon und hob den Otter auf. "Und jetzt ist Marvs Zettel hinausgeweht!"
"Das war aber nicht ich! Das war der Wind."
"Wind oder nicht, ich muss ihn zurückholen. Und du, kleiner Mann, wirst nicht wieder fliegen, verstanden?"
"Wie denn auch?" Xenon wand sich aus ihrem Griff und kletterte Moons Ärmel hinauf zu ihrem Kragen. "Mein Drachen ist ja kaputt. Los, wir müssen nach draußen."
"Du bleibst natürlich hier!", widersprach Moon.
Xenon klammerte sich an ihr T-Shirt. "Nööö! Ich werde dir helfen! Ich weiß nämlich, wo Mac ist. Mit seiner Hilfe kriegen wir den Zettel ganz schnell, aber wenn du mich hierlassen willst, verrate ich dir nichts und du kannst den Zettel nicht mehr einholen!"
Moon seufzte. Sie hatte wirklich keine Zeit zu verlieren, das hatte der Otter richtig erkannt. "Na gut, wo ist Macchiato?"
Xenon leitete sie auf den Innenhof, wo Mac gerade das Unkraut aus einem der zugeschneiten Gärten knabberte. Als er eine atemlose Moon auf sich zurennen sah, hob der braune Hengst den Kopf.
"Du musst ... helfen! ... sonst nicht mehr ... Zettel ... und täglich ..." Moon japste.
"Mac, können wir einen Ausritt machen?", fragte Xenon laut.
Verwundert nickte das braune Pferd. "Aber willst du nicht erst einen Sattel ...?"
"Keine Zeit!", krähte Xenon.
Mac ging zwei Schritte und stellte sich neben das niedrige Mäuerchen, das den Garten einfasste. So konnte Moon kinderleicht auf seinen Rücken steigen.
Mac spazierte auf das Tor zu.
"Schneller!", rief Xenon.
Mac sah zurück. "Moon?"
Sie nickte. Inzwischen war sie wieder zu Atem gekommen. "Schneller, bitte."
"Aber halt dich gut fest, hörst du?" Mac verfiel in den Trab und dann in den Galopp. Moon musste sich an seine Mähne klammern und hoffte, dass sie dem Pferd damit nicht wehtat. Macchiato ließ jedenfalls kein Unwohlsein erkennen und trug sie mit schnellen Schritten über den knöcheltiefen Schnee im Innenhof und durch das Tor unter dem großen Leuchtfeuer nach draußen.
Xenon balancierte auf ihrer Schulter und reckte den Kopf. "Da! Da vorne!", rief er.
Moon entdeckte den Zettel im Wind, ein größeres Weiß zwischen den Schneeflocken. Sie zog an Macs Mähne und trieb ihn mit leichtem Klopfen der Schenkel weiter an.
Wind fuhr ihr in die Haare und heulte über den Klippen. Er warf den kleinen Zettel hoch über dem Berg hin und her und trug ihn rasch quer über das Bergplateau, zwischen kleinen Blockhütten hindurch, die vereinzelt im Schatten großer Tannen ruhten.
"Oh nein, er treibt auf die Klippen zu!", rief Xenon ängstlich.
Moon duckte sich tiefer über den Pferdehals. "Los, Macchiato!" Sie lenkte ihn mitten auf den kleinen, zugefrorenen See zu.
Macs Hufe trafen donnernd auf das Eis. Schnaubend legte er die Ohren zurück und galoppierte mit mutigen Sprüngen voran. Hinter dem See fasste er festen Boden und sprengte schneller vorwärts.
Vor ihnen tat sich ein Graben auf. Mac wollte abdrehen und ihn umrunden, doch Moon sah bereits, wie der Zettel nun in wilden Kreisen hinuntertrudelte.
"Du musst springen!", schrie sie und lenkte Macchiato geradeaus.
Er senkte den Kopf und wurde nochmals schneller, mit kräftigen Galoppsprüngen. Dann stieß er sich ab.
Einen Moment fühlte sich Moon schwerelos, als würde der kalte Wind sie tragen. Schnee schwebte zu ihren Seiten in der kalten Luft. Xenon klammerte sich an ihre Schulter.
Dann setzten Macchiatos Hufe in einem Wirbel weißer Flocken auf. Moon lehnte sich zurück, um den Sprung abzufedern. Auf dem bloßen Pferderücken rutschte sie leicht, aber sie konnte sich halten.
Vertrauensvoll rannte Macchiato auf die Klippen zu. Der Zettel wurde leicht zur Seite getrieben. Moon lenkte Mac dorthin. Das Papierchen kam tiefer, gleich hätte sie es. Sie streckte sie Hand aus ...
Und der Wind riss den Zettel weiter hinaus.
"Nein!", schrie sie auf.
In diesem Moment hoppelte Xenon über ihren ausgestreckten Arm und sprang nach vorne. Seine kleinen Pfoten umschlossen den Zettel.
"Juhuu!", jauchzte er. Dann fiel er in die Tiefe.
"XENON!", schrie Moon auf.
Mac bremste schlitternd und drehte den Kopf. "Warum hat er das gemacht?"
Beide Hände vor den Mund geschlagen starrte Moon in die schwarze Tiefe hinter dem Hang des Berges. Ihr Herz wollte einen Schlag aussetzen.
Der Wind heulte und toste. Hier oben war er schneidend kalt und kräftig. Und er trug Moon helles Gelächter zu.
"Xenon?", fragte sie verwirrt und hoffnungsvoll.
Da kam der Otter auch schon aus der Tiefe geschossen! Er hatte den weißen Zettel aufgefaltet und lag darauf wie auf einem Kissen. Jubelnd schoss er mit dem Aufwind hinauf und über Moons Kopf. Dann drehte er einen wilden Looping.
"Es klaaappt!" Im nächsten Moment stieß der Otter einen spitzen Schrei aus und kippte aus dem Himmel.
Moon trieb Mac vorwärts und fing den kleinen Fleckenhalsotter mit beiden Händen auf. Mit bebendem Herz drückte sie ihn an sich. "Xenon! Was machst du denn?"
Triumphierend grinsend reckte Xenon den Zettel in die Höhe. "Hab ihn!"
Moon musste wider Willen lächeln. Sie konnte ihm nicht lange böse sein.
Grinsend nahm sie den Zettel an sich. "Dieser Zettel ist nicht so wichtig, dass du dich dafür von einem Berg stürzen musst!", schimpfte sie so streng sie es fertigbrachte. "Wir hätten ihn auch unten noch einfangen können!"
"Dann wäre er furchtbar durchnässt gewesen", maulte Xenon.
Mac drehte den Hals und sah zurück. "War das jetzt alles nur für den Zettel? Hättet ihr nicht einen neuen schreiben können?"
"Ähh ...", sagte Moon. "Oh."
"Ups", sagte Xenon zum zweiten Mal an diesem Tag.
Ein wenig durchfroren setzte Macchiato Xenon und Moon vor der Grauen Feste ab. Im Tor kam ihnen Marv entgegen.
"Moon! Wie schön, dass du da bist! Ich war noch drüben beim Autorenprofil, ich dachte schon, ich hätte dich verpasst." Dann musterte der Grauwolf Xenons schuldbewusstes Gesicht. "Was treibt ihr eigentlich hier draußen?"
"Flugübungen!" Xenon strahlte.
"Ich hab dir die Stunts doch verboten!", knurrte Marv. "Das gibt jetzt Hausarrest, bis du alle Prompts der Grafen abgearbeitet hast!"
Xenon drückte sich an Moon und sah bittend zu ihr auf.
Moon klebte ihren Zettel auf Marvs Nase. "Er hat mir nur ein bisschen was geholfen."
Marv schielte auf den Zettel, ehe er den Otter misstrauisch ansah. "Dann hat er also keine gefährlichen Stunts gemacht?"
"Nein, gar nicht!", antwortete sie und lächelte Marv zu.
Mac schnaubte leise, sagte aber nichts und kehrte zu seiner Arbeit zurück.
"Na dann ..." Der Grauwolf wedelte leicht mit der Rute. "Komm doch rein! Hier draußen ist es viel zu kalt. Ich hab Tee und Brotchips."
"Gerne." Moon lächelte. "Aber allzu lange kann ich nicht bleiben."
"Weiß ich doch." Marv drückte die Eingangstür mit dem Kopf auf und hielt sie so für Moon und den Otter offen. "Ich hab nur gerade den Kamin angefeuert. Ich muss vergessen haben, das Fenster da zu schließen, es war bitterkalt. Jetzt wird es gerade dafür so richtig schön warm." Mit der Zungenspitze zupfte er den Zettel von seiner Nasenspitze. "Und wie immer vielen Dank für deine Erinnerung! Ich würde das sonst glatt vergessen, das kannst du mir glauben!"
"Ich mache das doch gerne."
"Deshalb bin ich dir nicht weniger dankbar!", sagte Marv ernst. "Auch wenn ich ab und zu mal ein bisschen an dem Zettel knabbere. Ich bin dir wirklich dankbar, dass du mich immer erinnerst. Und ich freue mich jeden Abend auf deinen Besuch."
Moon lächelte, unsicher, was sie dazu sagen sollte. Aber Marv wuselte bereits in die anliegende Teeküche. "Was möchtest du denn gerne? Früchtetee? Pfefferminz? Ich hätte auch Kakao."
Draußen heulte der Wind um das Gestein der Grauen Feste und wirbelte Schnee am Fenster vorbei, das leise, unendliche Lied des Winters.
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Die Otter-Saga geht weiter: