- Start: 03.10.2019 - 18:40 Uhr
- Ende: 03.10.2019 - 19:33 Uhr
CN: Tod
Er drehte den Schlüssel und öffnete die Tür. Staub rieselte aus den Spalten zwischen den beiden Türflügeln und dem hohen, sich nach oben verjüngendem Portal. Die dicken Steinplatten schabten knirschend übereinander. Das Rumpeln der sich öffnenden Pforte übersetzte sich in ein Beben des Bodens. Vögel stiegen aus dem Wald auf, der sich in Tiaks Rücken erstreckte. Kleine Bergmäuse und Insekten krabbelten panisch über das Platau und vom Berghang.
Tiefe, verwitterte Schleifspuren im Stein zeugten davon, dass diese uralten Tore bereits früher geöffnet worden waren. Langsam war der dunkle Gang hinter den Toren zu sehen. Wie auch die Tür lief der Gang oben spitz zu. Der Boden, breit genug, dass fünf Karren nebeneinander hätten fahren können, war mit tiefen Klauenspuren gezeichnet. Unter der Decke hingen wie ein Baldachin unzählige schwer mit Staub beladene Spinnweben.
"Unglaublich!", hauchte der Anführer der Jäger. Er und zwanzig Mann auf glänzenden Stahlrossen hatten sich am Rand des großen Plateaus versammelt. Keines der mechanischen Pferde scheute, als die Tore aufschwangen und einen so großen Kreis zogen, dass den Reitern nur ein Meter Platz zwischen dem Tor und dem Sturz in die Tiefe blieb.
Tiak trat zum Anführer und reichte ihm den großen Schlüssel, den der Junge mit beiden Händen halten musste. Er seufzte leise. Ein halbes Jahr hatte sein Abenteuer nun gedauert. Er hatte uralte Schriftrollen durchwühlt, alte Gräber geplündert, war unzähligen Fallen und wilden Tieren entkommen. Doch am Ende hatten ausgerechnet die Drachenjäger ihn erwischt. Nicht nur, dass sie ihm den Ruhm nehmen würden, das Versteck der Feuerdrachenkaiser gefunden zu haben - nein, sie würden diese majestätischsten aller Geschöpfe in dem von hohen Bergen eingeschlossenen Tal überraschen und niedermetzeln. Die Gipfel waren unüberwindbar hoch. Kein Drache konnte den Jägern entkommen.
Der Anführer gab ein Zeichen. Die schweren Metallrosse setzten sich mit leise quietschenden Schritten in Bewegung. Dampf entwich ihren Nüstern. Der Anführer packte Tiak und hob ihn vor sich auf das Stahlpferd, während die Männer in den breiten Gang strömten.
Tiak legte den Kopf in den Nacken und versuchte, sich die Größe der Drachen auszumalen. Der Weg im Berg gehörte zu einem ehemaligen Königreich der Drachenfreunde. Die Bergfeste selbst war eine natürlich gewachsene Burg. Mithilfe der Felsendrachen hatten man diesen Eingang geschaffen, so hoch und so breit, dass sogar einer der großen Feuerdrachenkaiser hindurchpasste. Die Decke so hoch, dass ein zweistöckiges Haus hier hinein passen würde. Nein, sicherlich auch ein drei- oder vierstöckiges Gebäude! Je tiefer sie in den Gang kamen, desto besser konnte Tiak die Ausmaße abschätzen. Er sah Schleifspuren an den Wänden. Offenbar waren sogar diese gewaltigen Hallen zu klein gewesen.
Die Schritte der Pferde hallten dumpf in den Gängen wider. Die Drachenjäger hatten die Metallhufe mit Leder umwickelt, um die Geräusche der Schritte zu dämpfen. Trotzdem kamen sie nur im Schritt vorwärts, im Trab waren die schweren Rosse zu laut. Tiak wurde immer nervöser. Vorfreude und Angst verknotete seinen Magen. Er würde echte Drachen sehen! Und er war der Grund, dass sie sterben würden. Hätte er doch bloß diese dumme Reise nicht begonnen. Hätte er den Schlüssel doch niemals gefunden.
"Licht!", sagte einer der Jäger. Die anderen gaben das Wort weiter. Da sie bereits entzündete Fackeln trugen, konnte es nur einen Grund für den Ruf geben: Tageslicht! Sie näherten sich dem Ausgang.
Tiak legte die Hand vorsichtig auf den mähnenlosen Hals des Metallpferdes. Er sah die Steuerknöpfe. Er wusste nicht, wie man die Tiere steuerte, doch wenn er dort drauf hieb ...
Der Ausgang kam in Sicht. Sonnenlicht zeigte den Menschen ein grünes, weitläufiges Tal. Es gab einen Wald, grüne Wiesen, doch auch Felder und kleine, strohgedeckte Hütten, deren Dächer jedoch eingefallen waren. Menschen und Drachen lebten nicht länger Seite an Seite. Nicht mehr, seitdem der Drachenmond gestohlen worden war.
Die ersten Jäger ritten aus dem Tunnel und sahen sich wachsam um. Das Tal war still, es gab kein Lebenszeichen. Langsam versammelte sich die Jagdtruppe zu einer dichten Traube. Tiak wurde plötzlich sehr ruhig.
Dann hörte er ein Knurren gefolgt von schrecklichem Brüllen. Ein Feuersturm rauschte auf die überraschten Jäger zu, diese rissen ihre Schilde hoch. Tiak hieb auf die Kontrollen des Metallpferdes und das mechanische Tier machte einen Sprung zur Seite, strauchelte über einen Abgrund und rollte in die Tiefe. Tiak und der Anführer der Jäger wurden abgeworfen, Tiak konnte sich an einem Baum festhalten.
Über sich sah er die Jäger in den Flammen - und erstarrte. Die feuersicheren Schilde und Rüstungen schmolzen vor seinen Augen! Die metallenen Pferde verformten sich, ihre Bewegungen stockten, eines geriet außer Kontrolle und wirbelte als tödlicher Klingensturm durch die Menschen. Die Schreie vermengten sich mit dem Fauchen der Flammen. Tiak presste sich die Hände auf die Ohren. Vor Entsetzen konnte er nicht einmal atmen udn die heiße Luft, die ihn selbst hier unten erreichte, tat ihr übriges.
Das Feuer versiegte. Kein Mann war mehr am Leben. Tiak zitterte vor Angst. Er hatte die Drachen nicht einmal gesehen! Wo waren sie?
"Du Betrüger!"
Tiak fuhr herum. Der Anführer der Jäger kämpfte sich mühsam den steilen, matschigen Hang hinauf. Unten, in einer steinigen Senke, lag das abgestürzte Pferd, zur Unkenntlichkeit zerbrochen.
"Du hast uns ins eine Falle gelockt!", brüllte der Anführer.
"Wusstet ihr etwa nicht, dass Feuerdrachenkaiser einen heißeren Atem als alle anderen Drachen haben?", rief Tiak trotz seiner Angst frech herunter. Er riss die Augen auf, als der Anführer seine Anstrengungen verdoppelte und immer schneller hoch kam. Eilig krabbelte auch Tiak nach oben, doch er rutschte immer wieder ab. Der Jäger kam näher. Und näher.
Tiak zog sich auf die Plattform am Ende des Tunnels. Sie war mit geschmolzenem Metall bedeckt. Tiak wich den noch blubbernden Pfützen aus.
Doch der Jäger war dicht hinter ihm. Er hievte sich nach oben und hatte den Jungen mit zwei Schritten erreicht. "Mörder!", fuhr er ihn an. Speicheltröpfchen flogen Tiak ins Gesicht. Der Jäger schüttelte ihn, dann riss er ihn zum Abgrund und - warf ihn hinunter!
Tiak spürte Hitze im Nacken, als ein weiterer, sehr viel dünnerer Feuerstrahl auf die Plattform schoss. Der Jäger brüllte nicht einmal.
Tiak stürzte und wedelte hilflos mit den Armen. Das zerbrochene Metallpferd stand ihm vor Augen. Unten erwarteten ihn spitze Steine, hartes Geröll ...
Ein Rauschen. Dann umschlossen lange, schwarze Klauen den Jungen. Diese führten zu rotbeschuppten Zehen, die dicker als Tiak waren.
Ungläubig hob der Junge den Kopf, während der Drache langsam in die Waagerechte glitt. Und was es für ein Drache war! Seine Schuppen hatten eine intensiverote Farbe, heller als Blut und strahlend wie Feuer. Die drei Reihen langer, dünner Stacheln auf dem Rücken waren lackschwarz, wie auch die Krallen. Die Zähne waren so lang wie Tiaks Unterarm und schneeweiß. Und die Flügel könnten einen ganzen Acker vor der Sonne schützen ... Solch ein riesiges Wesen würde doch kaum durch den Tunnel passen.
"Wir müssen schon kriechen, wenn wir hinaus wollen." Der Feuerdrachenkaiser hatte den Kopf gesenkt und starrte Tiak aus goldenen Augen an.
Der Junge schlug die Hand vor den Mund. "Ihr könnt Gedanken lesen!"
Der Drache lachte mit grollender Stimme, die Tiak durch Mark und Bein ging. "Nein, Menschling. Du hast gebrabbelt wie ein junges Küken."
"Oh." Tiak schluckte. "Ver- verzeihung." Dann sprudelte es plötzlich aus ihm heraus: "Oh Götter - ich wollte die Jäger nicht hierher führen! Es tut mir so leid. Ich wollte nur die Tore öffnen und euch sehen ..."
"Die Jäger sind kein Problem für uns", grollte der Drache. "Und die Pforte haben wir schon längst wieder verschlossen. Sieh mich nicht so an, Menschling. Nicht nur ihr Menschen habt die Wunder der Technik erlernt."
Der Drache wurde langsamer und landete dann auf drei Beinen, ehe er Tiak sehr vorsichtig ins Gras setzte. "Doch nun zu dir, Menschling ..."
"Ich ... ich bin nicht euer Feind", piepste Tiak ängstlich.
"Das haben wir uns schon gedacht."
'Wir?', dachte Tiak und sah sich um. Erschrocken bemerkte er, dass er von gleich fünf Drachen umringt war. Da gab es den Roten, einen Dunkel- und einen Hellblauen, einen Goldenen und einen Weißen. Weitere kreisten im Himmel oder waren in der Ferne zu sehen.
"Wir können ihn nicht gehen lassen", grollte der weiße Drache. Seine Augen waren eisblau, die Bauchschuppen, Stacheln und Klauen blutrot. "Er könnte weitere Menschen herführen."
"Ich glaube nicht, dass er das tun würde", meldete sich der goldene Drachen. Seine Augen waren waldgrün und sanft.
"Aber Menschlinge ändern sich. Wenn sie hungrig sind, tun sie alles für Futter", knurrte der Weiße wieder.
"Bitte ...", flehte Tiak leise.
"Darin unterscheiden sie sich nicht von Drachen", brummte der Dunkelblaue, dessen Stacheln golden waren. "Du hast es hergebracht, Arikash. Der Menschling ist deine Verantwortung. Wirst du ihn töten?"
"Nein!", grollte der rote Drache und stellte eine Pranke beschätzend vor Tiak. Der Junge fuhr bei der Bewegung des gigantischen Drachen zusammen. Nach dem ersten Schrecken war er froh, dass solch ein riesiges Wesen ihn beschützte. Vermutlich fand der Feuerdrachenkaiser ihn interessant. Tiak hatte in einem Buch gelesen, dass diese größten und langlebigsten Drachen sich gerne kleinerer Wesen annahmen. Das mochten einfache Elementardrachen sein, Säugetiere oder eben Menschen. Die großen Drachenkaiser behandelten diese Wesen wie Haustiere.
Die Drachen wechselten in ihre eigene Sprache, die Tiak nicht verstand. Er spürte, dass seine Hände zitterten. Echte Drachen. Und gleich so viele davon. Und ausgerechnet die legendären Kaiserdrachen. Das war eindeutig zu viel für ihn. Um sich zu beruhigen, ging er die Drachenarten durch. Es gab die Herrscherdrachen, die alle vier Elemente in ihrer Form vereinten. Die Kaiserdrachen, die drei Elemente vereinten. Eines war dabei stärker ausgeprägt: Bei den Feuerdrachenkaisern war es das Feuer, Wasserdrachenmagie beherrschten diese dafür überhaupt nicht - doch sie konnten Fliegen und besaßen die Kundigkeit für Edelsteine, die sonst nur Erddrachen hatten.
Königsdrachen gab es auch noch, fuhr Tiak fort - sein Atem beruhige sich langsam. Königsdrachen beherrschten zwei Elemente und es gab viele verschiedene Unterarten. Dann schließlich gab es die gewöhnlichen Drachen. Die des Feuers - Flammendrachen, Funkendrachen, Feuerdrachen - die des Wassers - Tiefseedrachen, Küstendrachen, Teichdrachen, Flussdrachen ...
Tiaks Überlegungen wurden unterbrochen, weil die vier anderen Drachen mit kräftigen Flügelschlägen abhoben. Der Gegenwind drückte Tiak ins Gras und rollte ihn auf der Erde herum. Auch wenn der Junge sich an den Gewächsen festhielt, so riss er es nur mitsamt den Wurzeln aus.
Der rote Drache stoppte ihn sanft. Nachdem die fünf Drachen fort waren, stand er zitternd auf.
"A-arikash? Was ... was habt ihr entschieden?", fragte er nervös.
Grollend lachte der rote Drache. "Es stimmt, was man erzählt. Menschen sind wirklich außerordentlich schwerhörig."
"Verzeih. Aber ich war abgelenkt."
Der Drache schob seine rote Schnauze dicht vor Tiak. Der Junge musterte schluckend die Zähne. "Abgelenkt? Von einem Gespräch unter Drachen, Menschling?"
Kreidebleich nickte Tiak. Arikash stieß ein gutmütiges Grollen aus und richtete sich auf. "Sie erlauben nicht, dass du dieses Tal wieder verlässt. Das tut mir leid, Junge. Du kannst hier leben. Es gibt genug Fressen für alle und einige alte Menschenhöhlen. Ich muss dich nur warnen - solltest du fliehen, wird man dich töten."
"Fliehen?" Tiaks Stimme klang zittrig. "Ich laufe doch nicht weg! Ich kann endlich einmal Drachen erforschen! Davon habe ich mein Leben lang geträumt!"
Er bremste sich selbst. War sein Ausbruch zu stürmisch? Was, wenn er den Drachen versehentlich beleidigte?
Arikash aber lachte wieder. "Tja, wenn du mehr erfahren willst, werde ich dich zu Sosujash bringen. Die wird nie müde, von den alten Tagen und der goldenen Ära der Drachen zu berichten."
"Ehrlich?", fragte Tiak mit glänzenden Augen.
"Unter einer Bedingung." Täuschte sich der Junge, oder grinste der Drache verschmitzt? Überhaupt, Arikash wirkte jugendlich auf ihn: Neugierig, energetisch, impulsiv und fröhlich. Wie alt war dieser Drache wohl? Offenbar jünger als der Krieg zwischen Drachen und Menschen, das bewies seine Bedingung: "Im Gegenzug erzählst du mir mehr von den Zweibeinern! Ich will wissen, ob es stimmt, was die älteren Drachen über euch erzählen."
Tiak grinste breit. "Abgemacht!"
"Dann komm." Arikash streckte die Pranke aus. "Ich zeige dir das Tal!"
Tiak kletterte auf die Handfläche des Drachen, der die Klauen sanft um ihn schloss. Ein Hauch Wehmut erfasste den Jungen. Dieses Tal wäre fortan sein Gefängnis. Doch dafür erhielt er die Möglichkeit, mit echten Drachen zu sprechen, ihr Wissen und vielleicht sogar ihre Sprache zu lernen.
Der Abschied von Freunden, Familie und dem Leben, das er kannte, erschien ihm wie ein fairer Preis dafür.