- Start: 15.12.2020 - 18:48 Uhr
- Ende: 15.12.2020 - 19:12 Uhr
Die Aonyx 3 gleitet sachte über das Land und spielt im Wind, der von den Bergen hinabrollt. Der Ventilator, der den Motor ersetzt, rauscht leise, ansonsten ist hier oben kaum ein Geräusch zu hören. Ich hab eine ganze Reihe Stuntflüge hinter mir, da ich mein neues Fluggerät austesten wollte. Dazu bin ich in meine Siedlung zurückgekehrt, denn die Witterung auf dem grauen Berg ist heute besonders unfreundlich und bei aller Risikofreude wollte ich mir dann doch nicht die Pfoten brechen.
Über Otterland, dem flachen, von mäandernden Flussläufen durchzogenen Tal ist die Luft zwar ebenso kalt wie auf dem verschneiten Berg, jedoch so still, als würde sich hier kein Leben zeigen. Wenn der Graue Berg von Marv ein Schneesturm ist, dann ist mein Tal klares Eis.
Das Tal ist langgestreckt und wird auf beiden Seiten von hohen Bergen begrenzt. Der breite, flache Fluss läuft aus dem Gebirge bis ins Meer. Dazwischen befinden sich in erster Linie Sümpfe. Flach, dunkelgrün und rötlich erstreckt sich das Land unter mir, bestanden mit Schilf, Moosen und nur vereinzelten Tannen. Einzelne Eiskristalle segeln durch die Luft.
Ich stocke, als ich einen Ruf höre. Ein klagender Laut hallt durch die Stille und den Nebel.
Ich richte mich auf und drossele den Ventilator ein Stück. Mit weit aufgefächerten Flügeln gleitet das Fluggerät durch die Luft.
Wo kam das Geräusch her? Wie merkwürdig ...
Da höre ich es wieder. Diesmal erkenne ich, dass der Laut seinen Ursprung auf einem der klaren Seen hat. Ich wende das Fluggerät und lasse die Aonyx sinken. Im Näherkommen erkenne ich einen kleinen Teich. Oder eher einen toten Seitenarm, von denen es hier viele gibt. Dichtes Gestrüpp begrenzt das flache Ufer. Der See liegt absolut still da, bis der Luftzug meines Ventilators die Oberfläche kräuselt.
Dann klappe ich die Rollen runter und die Aonyx holpert über weiche Moospolster, bis sie schließlich zum Stehen kommt.
"Hallo?" Ich klappe die Flügel des Fluggeräts ein und befestige sie über die Moonperle am Körper. Dann springe ich auf den nachgiebigen Untergrund. "Ist hier jemand?"
Zunächst erhalte ich keine Antwort. Dann erklingt wieder dieser klagende Ruf. Auf einer Insel aus Schilf mitten im See erhebt sich plötzlich ein schlanker, weißer Kopf. Ich erblicke einen großen Vogel, der sich auf der winzigen Insel niedergelassen hat.
Ein Schwan.
Vorsichtig trete ich ans Wasser. Dann lasse ich mich hineingleiten. Zum Glück sind Otter gute Schwimmer! Ich gleite durch das eisige Wasser bis zur Insel und hebe dann den Kopf über die Wellen.
Der Schwan sieht auf mich herunter und macht eine Art Quäken.
"Öh, hi", sage ich. "Seid ihr nicht alle in den Süden gezogen oder so?"
Der Schwan seufzt leise und steckt den Schnabel unter den Flügel.
Ich fasse Mut und klettere an Land. "He! Hallo? Ich rede mit dir!"
"Lass mich einfach", haucht der weiße Riese kraftlos.
"Wieso sollte ich?" Ich plustere mich auf. "Du bist hier in meinem See!"
Jetzt hebt der Schwan den Kopf. "Dein See? Ach wirklich?" Er wirkt irgendwie nicht so recht überzeugt.
"Natürlich! Ich bin Xenon, mir gehört das ganze Tal."
Der Schwan lässt den Blick bis zu den Bergen schweifen. "Ziemlich großes Revier für einen Otter."
"Ich brauche den Platz. Also, was treibst du hier?"
"Ich kann nicht mehr fliegen." Der Schwan breitet die Schwingen aus. Erschrocken sehe ich, dass ihm an einem Flügel mehrere Federn fehlen.
"Bis die nachgewachsen sind, ist es Winter. Also wollte ich mir diesen friedlichen See zum Sterben aussuchen."
"Na, aber nicht, solange ich hier noch ein Wörtchen mitzureden habe!", knurre ich angriffslustig.
"Aus dem Tal kann ich eh nicht mehr raus, also lass mir doch einfach den See."
"Was ist denn passiert?" Ich gehe nicht auf seine Bitte ein, sondern beginne, mit einem Stock in den weichen Schlamm zu kritzeln. Ich hab noch dies und das im Stauraum der Aonyx, eigentlich für Ausbesserungen, aber wenn ich die so verbinde und das dahin mache ...
"So ein Adler hat versucht, mich zu essen", erklärt der Schwan.
"Oh, ja, von denen gibt's hier eine Menge. Ich hab ihnen aber beigebracht, die Aonyx zu meiden!"
"Ist das dieser fliegende Schrotthaufen?", fragt der Schwan.
"In der Tat." Ich drücke mich von hinten gegen den Bürzel. "Schieb dich mal zum Ufer, du Riesenvogel."
Etwas verdutzt sieht der Schwan mir zu. Dann erbarmt er sich, steht auf, watschelt ins Wasser und schwimmt elegant hinüber.
Wow! Wenn ich das so sehe, will ich meine Aonyx zum Boot aufrüsten!
Ich reiße mich aus der Bewunderung und paddele dem Vogel hinterher.
"Nein, nicht da rüber! Hierhin!", rufe ich ihm zu, als er weiter entfernt ans Ufer will.
Langsam schwimmt der große Schwan näher, während ich Fäden und Riemen aus dem Stauraum hole und unter die Aonyx 3 binde.
"Was genau wird das?", fragt der Schwan, dem dämmert, dass ich ihn nicht einfach aus dem See werfen möchte, sondern was anderes vorhabe.
"Kannst du mal bitte die Flügel hier durchstecken?", frage ich und hüpfe auf das Fluggerät.
Verwundert tut der Schwan wie geheißen.
Ich löse die Moonperle. Der auf Federn befestigte Klotz in der Mitte geht hoch und die Schwingen des Fluggeräts entfalten sich. Ich starte den Ventilator, der mein Flugzeug schlingernd in die Höhe und leicht nach vorne drückt. Jetzt die Rückflosse aufstellen, damit ich nicht davonsause ... die Seile spannen, als sie das Gewicht des Schwans fassen. Ich schalte den Ventilator höher.
"H-he?", fragt der Vogel.
Ich spähe am Flügel vorbei nach unten. "Jetzt musst du ... Wie heißt du eigentlich?"
"Jiskan."
"Freut mich! Also, jetzt musst du dich gut festhalten, Jiskan. Wir bringen dich ins Dorf, da kannst du überwintern."
"Wie, einfach so?", fragt der Schwan, als seine Flossenfüße gerade den Kontakt zum Boden verlieren. Leise ächzend unter ihrer Last kämpft sich die Aonyx 3 in die Höhe.
"Was heißt hier 'einfach so'?", frage ich. "Das wird alles andere als einfach, ohne Absturz dahin zu kommen!"
Ich höre ein belustigtes Geräusch vom Schwan. Er hebt den Kopf in den Wind, als wir langsam an Höhe gewinnen. Seine dunklen Augen glänzen mit einem Mal. "Danke, Xenon."
"Es ist mir eine Freude, wirklich."