- Start: 23.11.2021 - 23:53 Uhr
- Ende: 24.11.2021 - 00:07 Uhr
There is a house in New Orleans ...
Jemand sang im Treppenhaus. Laut.
Die alte Dame schlug blinzelnd die Augen auf. Wie viel Uhr war es? Sie konnte es nicht sehen, sie hatte ihre Brille nicht auf, doch es fühlte sich an wie vier Uhr morgens.
... they call the Rising Sun.
Es war die Stimme einer Frau. Das Lied klang auch nicht gut. Wer immer da sang, war recht außer Atem. Sie sang schief und hoch. Und vor allem laut!
Die alte Frau tastete nach dem Kissen und wartete. Das Reihenhaus hatte nur fünf Stockwerke. Irgendwann musste die dumme Trällerguste doch draußen sein.
My mother was a tailor ...
Das Singen ging weiter und entwickelte einen verdächtigen Hall. Die alte Dame seufzte. Der Keller.
Offenbar würde die Sängerin nicht so rasch gehen. Musste sie denn das ganze Haus aufwecken?
Offenbar hantierte die Sängerin im Keller und genoss den Hall dort unten. Verdammtes Jungvolk. Die alte Frau war dankbar, als die letzte Strophe nahte.
Oh Mother, tell your children
not to do what I have done.
Nicht mehr lange, dann wäre Ruhe. Die Sängerin zwang ihre Stimme allerdings noch einmal zu einem schrillen Crescendo.
In the house (Pause) of the ri-ising (viel zu hoch) sun! (VIEL zu laut)
Hielt die sich für eine Operette oder so was?
Die alte Dame drehte sich auf die andere Seite. Endlich ...
There is ...
Ruhe ...?
... a house ...
Oh nein!
... in New Orleans!
Das reichte. Mit einem Knurren erhob sich die Alte aus dem Bett und hämmerte gegen die Tür. Die Wände waren so dünn, dass man ihre Stimme sicherlich bis in den Keller hörte. "Ruhe!"
They call the rising sun.
Das durfte doch nicht wahr sein! Hatte dieses blöde Gör Kopfhörer auf?
"Ruhe da unten!" Die Alte riss die Tür auf. Kälte kroch ihre Zehen herauf. "Weißt du eigentlich, wie spät es ist?"
Doch alles Wüten half nicht. Der Gesang ging weiter.
"Ich rufe die Polizei!"
Stille.
Endlich, Stille! Die alte Dame seufzte auf und wollte umkehren, als ...
I follow the Moskva ...
Das war doch jetzt wirklich die Höhe!
... down to Gorky Park.
Schluchzend sank die Frau auf den Stuhl im Flur.
Listening to the Wind of Change.
Es war Samstag! Durfte man nicht mal mehr Samstags ausschlafen?
Sie fühlte sich schwach und kehrte in ihre Küche zurück, um sich einen Kaffee zu machen und zu überlegen, wen von der Hausverwaltung sie am besten anrief. Im Flur lief in Dauerschleife 'Wind of Change'. Ein schönes Lied, aber sie hatte es so oft in der Werbung gehört, dass sie es nicht mehr leiden konnte. Erst recht nicht, wenn es jemand in immer neuen Varianten um - wie viel Uhr war es doch gleich? - im Treppenhaus sang!
Taaake me! To the magic of the Moment on a glooory night!
Der Gesang kam die Treppe herauf. Die alte Frau mühte sich hoch und humpelte zur Tür, jedoch nicht schnell genug. Schon war die Stimme vorbei und eilte nach oben.
Sie riss dennoch die Haustür auf. "Hören Sie mal, junges Fräulei-ahhh!"
Fast wäre sie über etwas gestolpert, das vor ihrer Tür stand. Sie senkte den Blick.
Ein Wäschekorb aus der großen Gemeinschafts-Waschküche im Keller. Mit ihrer Kleidung darin, sorgfältig gefaltet.
Where the children of tomorrow share their dreams ...
with you and me.