- Start: 02.10.2020 - 08:55 Uhr
- Ende: 02.10.2020 - 09:13 Uhr
"Und, wie war's?"
Jack schloss die Augen und lehnte sich an die Tür, die er gerade geschlossen hatte. Im Treppenhaus hatte ihn eine Art Zittern übermannt, weil er hinter der schweren Tür endlich Sicherheit und Ruhe finden würde. Doch stattdessen hörte er die Stimme seiner Mutter.
Es war wie ein Dolchstoß. Er liebte seine Mutter, aber ihre Frage war dennoch wie ein Dolchstoß.
"Gut", rief er zu dem Flecken hellen Lichts, das durch die geöffnete Wohnzimmertür auf den dunkeln Flur fiel. Der Duft von warmem Essen wehte ihm entgegen. Er hatte Hunger, aber keine Lust auf Fragen.
Mit einem dumpfen Geräusch fiel die Tasche neben ihm auf die Erde und er schleppte sich durch den dunklen Flur, am Licht und Duft vorbei zu seinem Zimmer.
Es war ein schmales, L-förmiges Zimmer, in dem er bereits seine gesamte Jugend verbracht hatte. In dem sein Drang, auf- und umzuräumen immer wieder an seine Grenzen stieß wie ein rauschender Ozean an den Wänden eines Damms. Das schmale Bett passte nur in die eine Ecke, damit blieb für den Schreibtisch nur der Platz vor dem Fenster und Regal und Schrank nahmen den restlichen Platz ein. Überall war eine Handbreit Platz zur Wand. Sein Kopfkissen war neben der Wasserleitung in der Wand, wo ihn nachts jede Spülung im Haus aus dem Schlaf riss.
Direkt nebenan lag das große Zimmer seiner Eltern. Es war geräumig, besaß eine eigene Toilette und einen Zugang zum kleinen Garten. Sie hätten mit ihm getauscht, jederzeit, aber in dem kleineren Zimmer war nicht genug Platz für das Ehebett und den Rangierraum, den der Rollstuhl brauchte.
Jack ließ sich auf das Bett fallen und sah zur Decke. Seine Finger juckten. Jedes Geräusch aus der Küche stach wie eine Nadel in seinen Kopf.
Dann Schritte. Jack versteifte sich.
"Willst du nichts essen?", fragte seine Mutter.
"Nein."
"Es gibt Schnitzel mit Bohnen."
Da war das schlechte Gewissen: Sie hatte mit Mühe gekocht und nun wurde das Essen kalt. Am Ende würden sie es vielleicht wegschmeißen müssen!
"Ich hab keinen Hunger." Jack wälzte sich auf die Seite. Watte schien seinen Kopf zu füllen.
Die Tür wurde aufgedrückt und das Licht angeschaltet. "Langer erster Arbeitstag?", fragte seine Mutter. Sie sah ihn an. "Wenn du schlafen willst, zieh dich vorher um."
Jack stöhnte.
"Du willst doch nicht, dass das Hemd morgen zerknittert ist, oder?"
Er stemmte sich hoch. Das Hemd. Morgen. Sein Magen pochte unangenehm. Er würde morgen wieder zur Arbeit müssen. Und übermorgen wieder. Jeden Tag, für den Rest seines Lebens.
Irgendwie schaffte er es, die Schuhe auszuziehen.
"Hast du nette Kollegen? Musstest du viel machen?" Seine Mutter stand noch immer im Türrahmen.
Warum konnte sie ihn nicht einfach in Ruhe lassen? Er hatte keine Lust, den ganzen, beschissenen Tag wieder durchzukauen!
"Ja."
"Ich muss unbedingt Monika davon erzählen. Die ist doch immer in der Bibliothek, die kommt dich dann mal besuchen."
Jack schluckte. Nein, er würde während der Arbeit nicht auch noch eine fröhliche bemutternde Glucke ertragen, die um ihn herumwirbelte, als habe er mit dem blöden Job die Heilung für Krebs entdeckt!
"Lass mich jetzt einfach schlafen!", knurrte er.
Seine Mutter starrte ihn an. "Geht das auch in einem normalen Tonfall?" Statt eine Antwort abzuwarten, knallte sie die Tür zu.
Jack saß im Dunkeln. Er trug noch immer das Hemd, das er extra für den Job gekauft hatte. Seine Hände juckten vom Staub der Bücher. Er hatte Hunger, aber keinen Appetit mehr, nachdem seine Mutter ihn angebrüllt hatte.
In der Dunkelheit sah er ihren müden, erschöpften Blick vor sich. Der Blick ihrer Augen war vorwurfsvoll.
Jack seufzte. Wie sollte er Anderen erklären, was in ihm vorging, solange er es selbst nicht verstand?