- Start: 24.11.2021 - 12:53 Uhr
- Ende: 24.11.2021 - 13:06 Uhr
Es wirkte, als wäre die gesamte Stadt ertrunken. Lena konnte sich nicht von diesem Anblick losreißen. Das Fenster war leicht beschlagen, und dahinter kroch der Nebel herein, über die Häuser und Gärten, aus dem Wald heraus. Die Welt schien nach etwa einen Kilometer zu enden, wie in einem Computerspiel mit schlechter Render-Distanz. Sie wusste, dass dort eigentlich weitere Dörfer lagen und die Hügel, doch sie könnten ebenso gut völlig verschwunden sein. Wäre die Welt untergegangen, würden sie es nicht einmal wissen.
Es war ein wundervoller, mysteriöser Anblick. Sie fand es nicht unheimlich, eher beruhigend, als könnten auch alle Sorgen der Außenwelt sie hier nicht erreichen.
Sie seufzte, als ihr Blick auf den Tisch fiel. Darauf befanden sich die Rechnungen. Sie wünschte sich so sehr, sie könnte diese verschwinden lassen, wie der Nebel die Welt verschwinden ließ.
Verzweifelt sah sie wieder aus der Scheibe. Der leere Raum spiegelte sich, warf eine geisterhafte Zwischenwelt in den Nebel. An den Wänden sah man die helleren Flecken, wo Bilder gehangen hatten. Alles bis auf ihr Bett und die notwendigen Geräte hatte sie verkauft, doch es reichte vorne und hinten nicht.
Sie hatte keine Ahnung, was sie noch tun sollte. Aufgeben?
Eine Bewegung im Nebel lenkte ihre Aufmerksamkeit fort von dem Spiegelschatten und hin zur echten Welt. Dort sah sie etwas Weißes aus dem Wald traten.
War es ein Hirsch oder ein Wolf? Sie war sich nicht sicher. Sie war überzeugt, ein Geweih zu sehen, doch die lange Rute sprach eigentlich für einen Wolf, genau wie der niedrige Körperbau.
Lena runzelte die Stirn und erstarrte im nächsten Moment, als sich der Blick des Tieres auf sie richtete. Sie spürte einen Schauer. Blaue Augen leuchteten aus dem Nebel.
Am nächsten Tag fuhr ein Auto in der Straße vor. Die Menschen, die ausstiegen, trugen ernste Gesichter. Ihre Herzen waren erfüllt von Ärger und Mitleid, beides hielt sich die Waage. Sie waren gekommen, um die Zwangsversteigerung anzustoßen.
Sie stockten, als sie an der angegebenen Adresse kein Haus vorfanden. Stattdessen erstreckte sich dort eine Wiese mit einigen weißen Wildblumen. Der Landstrich sah verlassen aus.
"Wir sind doch richtig, oder?", fragte eine junge Frau und sah auf ihr Klemmbrett.
"Ja", bestätigte ihr Assistent. "Nummer 77."
Sie sahen sich um. Zwischen Nummer 75 und 79 war nichts, nur ein leeres Feld.
"Vielleicht ist es die falsche Straße?"
Ratlos stieg die ganze Gruppe nach einer Weile wieder ein.
Seitdem sie fort waren, kursierte ein Gerücht in der Gemeinde, was die leere Parzelle anging. Die Dokumente im Rathaus dazu waren uneindeutig, und niemand, der noch lebte, war sich sicher, ob dort einmal ein Haus gestanden hatte oder nicht. Die Erinnerung daran war einfach verblasst, wie Nebel.
Doch manchmal, im Herbst, wenn weiße Schwaden ins Dort einrollten, konnten sich dunklere Umrisse aus dem Weiß schälen. Dann erschien ein Haus im Dorf, ein hübsches, wenn auch etwas altmodisches Haus. Die Fenster waren von Licht erfüllt und manche schworen, sie hätten drinnen eine Frau zu einer Melodie tanzen sehen.
Legenden rankten sich um das Nebelhaus, doch niemand würde jemals genaueres erfahren. Die Tinte auf offiziellen Dokumenten verblasste und die Erinnerung in den Köpfen der Menschen auch. Ein Pfad, der sicherlich nicht für jeden war, aber Lena unendliche Freiheit ermöglichte.