- Start: 06.10.2019 - 18:57 Uhr
- Ende: 06.10.2019 - 19:15 Uhr
Er saß auf der Bank und beobachtete die vorbeiziehenden Menschen. Hin und wieder glitt sein Blick zum Himmel. Es war ein regnerischer Tag gewesen und den Wolken nach zu urteilen würde es auch bald wieder wie aus Eimern schütten.
Mit einem ungeduldigen Seufzen sah er den Parkweg auf und ab. Menschen um Menschen strömten vorbei. Manche mit Einkäufen in der Hand, aus den Aufdrucken der Plastiktüten in Zusammenhang mit ihrem Volumen konnte man gut Rückschlüsse auf das Bankkonto desjenigen ziehen. Andere führten ihren Hund aus und die Rasse sowie das Verhalten des Fifis sagten noch deutlich mehr über die Menschen aus. Am meisten ließ sich noch aus den Pärchen lesen, die Hand in Hand durch den Park eilten, den Blick zum Himmel, dann wieder zueinander ...
Eine einzelne Frau kam aus einer Gasse und lief den sandigen Weg auf ihn zu. Sie trug keine Jacke, ein weißes Kleid und rote, hochhackige Schuhe. Sofort richtete sich seine gesamte Aufmerksamkeit auf sie, wenngleich er den Blick abwandte und möglichst unbeteiligt tat. Aus dem Augenwinkel registrierte er dennoch alles: Den stolzen, hochaufgerichteten Gang, die kunstvolle Flechtfrisur der schwarzen Haare, ihr selbstbewusster Blick.
Unbewusst knetete er die Hände im Schoss. Als es ihm auffiel, legte er die Hände flach auf die Oberschenkel. Jetzt bloß keinen Fehler ...
Die Frau wurde langsamer. Dann setzte sie sich neben ihm auf die Bank und zückte ihr Handy, als müsste sie unbedingt eine SMS verfassen, die sie nicht im Gehen tippen konnte.
"Schönes Wetter heute", sagte er.
Sie sah überrascht auf und musterte erst ihn, dann den Himmel. "Könnte wärmer sein", erwiderte sie kühl.
"Verzeihung." Er lüftete seinen Hut kurz. "Ich wollte Sie nicht verärgern."
Sie sah auf und musterte ihr Gegenüber, ein Mann, der ihr Vater hätte sein können. Sie rang sich ein Lächeln ab. "Ich bin nicht verärgert. Nur müde."
"Das erleichtert mich. Dann verzeihen Sie mir die Störung." Er erhob sich, lupfte nochmals seinen Hut und wandte sich zum Gehen. "Schöne Schuhe haben Sie."
Irritiert sah sie auf, dann auf die Schuhe, dann zu dem Mann. Plötzlich fiel ihr etwas auf. "He, Sie ... entschuldigung?"
Er ging zuerst weiter, dann hielt er an und drehte sich um. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie ihn bereits fast eingeholt.
"Sie haben ihren Koffer vergessen." Atemlos überreichte sie das silberne Gepäckstück.
"Oh ... ähh ..."
"Das ist doch Ihr Koffer, oder?", fragte die junge Frau nun.
"Ja, natürlich", stammelte er und nahm den Koffer endlich an. "Vielen Dank!"
"Ach, keine Ursache." Sie winkte ab, steckte ihr Handy ein und lief weiter. Den Mann ließ sie an der Kreuzung stehen.
Wenige Zeit später in einer billigen Mietwohnung ohne Möbel, wo es nur eine Luftmatratze auf dem Boden und ein Telefon gab.
"Nein, komm mir nicht wieder damit! Ist mir scheißegal, wenn die Informantin mich verpasst hat!"
Der Mann stand in der leeren Küche, dem einzigen beleuchteten Raum. Das Licht aus der nackten Glühbirne fiel auf zerbrochene Fliesen auf dem Boden und aus den nackten Wänden ragende Wasseranschlüsse.
Der Mann hörte dem Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung kurz zu, ehe er aufgebracht fortfuhr: "Nein, Mike, das kannst du mir nicht erzählen! Wenn dieser Auftrag so wichtig wäre, hätten Profis die Übergabe geplant! Die hätten mich nicht an einem Regentag in den Park gesetzt, was an sich schon auffällig genug war, sie hätten sich ein paar vernünftige Codewörter ausgedacht, die nicht so verdammt alltäglich sind, und vor allem ein besseres Erkennungsmerkmal als fuckin rote Schuhe!"
Die letzten Worte brüllte der Agent in den Höhrer, dann legte er mit einem kräftigen Druck auf und schnaufte. Dem silbernen Koffer mit Dokumenten, der neben der Tür stand, schenkte er einen bitterbösen Blick.
Das war ja wohl der größte Reinfall in der Geschichte der Spionage gewesen!