- Start: 22.11.2019 - 11:24 Uhr
- Ende: 22.11.2019 - 11:54 Uhr
Es war einmal in einem Land, weit, weit entfernt, zu einer Zeit der Schwärze, dass die Hoffnung zerbrach und drei Splitter ihrer leuchtenden Seele waren alles, was unter dem Sternenhimmel auf die Erde sank.
In diesem Land lebten zwei Brüder. Der Ältere war groß und stark, mutig und fröhlich und hatte ein Lachen, das alle anstecken konnte. Er konnte die lustigsten Lieder spielen und ausgelassen tanzen und jeder liebte ihn. Sein Name war Löwe, denn wie ein Löwe konnte er brüllen. Der Jüngere war aber dunkel und still und er liebte die Einsamkeit. Er spielte traurige Weisen, die die Menschen zu Tränen rührten und keiner Worte bedurften und deshalb mochten ihn nur wenige. Sein Name war Panter, denn er kleidete sich schwarz und war leise wie ein Panter.
Löwe und Panter sahen, wie die Splitter der Hoffnung zur Erde fielen.
"Nun ist alles aus!", seufzte Panter mutlos.
Löwe aber strahlte. "Gib nicht auf! Wir werden die Splitter finden und zurückbringen! Damit helfen wir allen!" Er konnte seinen Bruder überzeugen, ihn zu begleiten und gemeinsam brachen sie auf.
Ihre Reise führte sie zum ersten Splitter, der war auf dem Gipfel des allerhöchsten Berges gelandet. Hoch oben im Schnee funkelte und glitzerte der Seelensplitter, dass es herrlich anmutete, wie ein Stern, der dort oben ruhte.
Die Brüder stiegen hinauf, doch bald blieb Panter zurück. Immer schwerer fühlten sich seine Beine an und der Weg war noch so weit! Müde sah er zum Gipfel, der nicht näherzukommen schien. Ihm war, als wachse der Berg mit jedem Schritt weiter empor.
"Was hast du?", fragte Löwe und hielt inne. Als Panter ihm sein Leid klagte, lächelte Löwe breit. "Sieh doch zurück, Panter. Sieh, wie tief die Welt schon unter uns liegt, wie viel wir geschafft haben!"
Panter sah zurück und erkannte, dass sie mehr als die Hälfte des Berges bereits bezwungen hatten. Und wenngleich der Weg anfangs leichter und weniger steil gewesen war, erschien das letzte Stück nun nicht mehr ganz so furchtbar weit. Mit neuem Mut eilte er hinauf, an der Seite seines Bruders Löwe, und sie erreichten den Splitter im Schnee und hoben ihn auf.
"Siehst du?", fragte Löwe, während der Wind um sie her toste. "Wir haben es geschafft."
"Aber zwei Splitter müssen wir noch finden", widersprach Panter leise, "und diese werden schwieriger."
Der zweite Splitter nämlich war in ein Tal gerollt und dort in eine tiefe, dunkle Mine. Löwe und Panter betraten den Tunnel und gingen unter die Erde, doch der Weg schien kein Ende zu nehmen. Ganz ferne und ganz blass konnten sie ein Licht erkennen, das schön anmutete, wie ein kleiner Stern im Dunkel. Aber das Licht, das Löwe in den Händen trug, war heller.
Panter wurde bald langsamer.
"Was hast du?", fragte Löwe und hielt an.
"Es ist so dunkel und die Schatten werden immer schwärzer", seufzte Panter. Er war schon nicht mehr im Licht des Seelensplitters. "Ich fürchte mich davor, zu stolpern und zu fallen."
"Nimm meine Hand", sagte Löwe und reichte sie ihm. "Bleib hier bei mir im Licht und dir wird nichts geschehen."
"Und wenn du fällst?", fragte Panter leise.
"Ich werde nicht fallen", versicherte Löwe ihm.
"Und wenn der Tunnel einbricht?"
"Auch das wird nicht geschehen."
Da fasste Panter Mut und ergriff seines Bruders Hand. So gingen sie weiter und sie erreichten den Splitter in der Tiefe der dunklen Höhle.
"Siehst du?", fragte Löwe. "So schwer war das noch nicht."
"Aber einen Splitter müssen wir noch finden", seufzte Panter, "und das wird der Schwierigste von allen."
Panter hatte recht, denn der letzte Splitter war in die Eiswüste gefallen. Tief hatte sein Kometenschweif die Gletscher aufgerissen. Jenseits eines zugefrorenen Teiches konnten die Brüder das ferne Licht schimmern sehen, wie ein einziges Sternchen im Nichts, doch die beiden Lichter, die Löwe in den Händen trug, strahlen vielmals so hell.
Sie gingen über das Eis, doch die Seelensplitter glühten dermaßen, dass sie das Eis schmelzen ließen. Ängstlich hielt Panter an.
"Was hast du?", fragte Löwe.
"Siehst du das Tauwasser nicht?", fragte Panter. "Wir werden sterben, wenn wir über den See gehen und wir werden auch sterben, wenn wir an seinem Ufer entlang gehen, denn dann werden Lawinen uns begraben."
Löwe schwieg eine Zeit. "Wir werden es schaffen", sagte er dann leise. "Wir beide, Panter, du und ich, wir werden laufen und den letzten Splitter finden."
"Geh du ohne mich", bat Panter. "Ich halte dich nur auf und du bist schneller als ich. Hole den letzten Splitter."
"Niemals werde ich dich zurücklassen!", widersprach Löwe. "Gemeinsam haben wir begonnen, gemeinsam werden wir es beenden."
"Ich bin dir doch nur eine Last!", klagte Panter.
"Und wenn ich dich eigenhändig tragen muss, ich werde nicht ohne dich gehen."
Da gab Panter nach. Die Brüder fassten einander an den Händen und liefen los, sie liefen schneller, als das Eis taute und gelangten mit ihrer kostbaren Last ans andere Ufer, wo sie den letzten Splitter nahmen.
"Siehst du?", fragte Löwe. "Nun haben wir alle drei."
"Aber zurückbringe müssen wir sie noch", sagte Panter. "Zurück an das Himmelszelt, wo die Hoffnung für alle leuchten soll."
Da setzte Löwe sich in den schmelzenden Schnee. "Oh Panter ... wie sollen wir beide das nur schaffen? Hinauf ans Himmelszelt zu gehen, das ist unmöglich. Der Weg ist zu steil und zu dunkel und zu gefährlich. Ich fürchte, es ist vorbei."
"Was sprichst du da?", wunderte sich Panter. "Löwe, warum gibst du auf?"
"Du hattest recht von Anfang an", flüsterte Löwe. "Wir sind verloren. Ich habe keine Kraft mehr, Bruder. Ich weiß nicht einmal, ob wir es nach Hause schaffen."
Da reichte Panter ihm die Hand. "Gemeinsam haben wir begonnen, gemeinsam werden wir es beenden. Mein Bruder: Für unmöglich hielt ich es, den hohen Berg zu erklimmen, doch du zeigtest mir, wir sind schon fast oben. Sieh zurück: Wir sind schon fast da. Für unmöglich hielt ich es, durch den schwarzen Tunnel zu gehen, doch du gabst mir den Mut, alles Licht hinter dir zu lassen. Nimm meine Hand: Wir werden nicht straucheln. Für unmöglich hielt ich es, durch das Eis zu wandern, doch du hattest keine Furcht und dein Mut war mir Schild. Beeilen wir uns, Bruder, und wir werden nicht zu spät sein."
Löwe ergriff Panters Hand und ließ sich auf die Füße ziehen. Kraftvoll und voller Hoffnung schlug sein Herz.
"Mit deinen Worten trugst du mich bis hier", sagte Panter und nahm seinem Bruder mit der freien Hand sanft die drei Seelensplitter ab. "Lass mich dich das letzte Stück tragen!"
Und so durchquerten sie die Nacht und das Nichts, gingen durch Flammen und Schwärze hin zum Himmelszelt und was unmöglich schien, das machten die Brüder wahr. Sie brachten die Lichter zurück, wo sie Eins wurden und neue Hoffnung erstrahlte.
"Ich Narr!", sagte Löwe, als die Schwärze schwand und die Sonne sich über das Land hob. "Ich dachte, alleine könnte ich die Welt retten und warst du es, der am Ende siegte."
"Was redest du da?", erwiderte sein Bruder. "Nur dank dir wusste ich, dass man jede Grenze überwinden kann. Ohne dich wäre ich keinen Schritt vor die Tür gegangen."
So kehrten sie nach Hause zurück und behielten Stillschweigen über ihre Tat. Doch manch einer wunderte sich, wenn er Löwes schönen Gesang und Panters traurige Lieder im Einklang hörte. Dann war es, als stünden Sonne und Mond gleichzeitig am Himmel und entsandten beide das gleiche Licht. Und manch einer fragte sich still, ob der Mond nicht schöner wäre als die Sonne, deren Licht er spiegelte, denn in seiner Gegenwart waren noch alle Sterne zu sehen. Und während die Sonne mächtiger ist, so fragt man sich seitdem, ob sie sich nicht manchmal einsam fühlt.
Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben Löwe und Panter noch heute.