- Start: 23.11.2019 - 18:28 Uhr
- Ende: 23.11.2019 - 18:42 Uhr
Mit leisem Quietschen schwingt das düstere Tor auf. Damals wie heute erscheint es mir unendlich hoch und bedrohlich inmitten des leise rieselnden Schnees. Die weiße Decke knirscht unter meinen Schritten, als ich mich dem Tor nähere. Ich halte einen Moment inne.
Genau so knirschte damals auch der Schnee unter den Rädern des Holzkarren, der mich herbrachte. Ein Knirps war ich, gewickelt in eine dicke Wolldecke und trotzdem bibbernd. Es war weniger die Kälte, obwohl ich auch sie damals viel deutlicher fühlte. Vielmehr waren es Angst und Tränen, die meinen Körper schüttelten. Als verängstigtes Kind durchquerte ich dieses Tor, auf der Suche nach Obdach, die Stimme meines Vaters noch im Ohr.
Du musst jetzt ... sehr tapfer sein.
Die Kälte ließ mich frösteln. Ein anderes Land. weit fort von Zuhause.
Ich will nicht fort!
Du musst. Du bist hier ... nicht mehr sicher. Böse Männer werden kommen. ... Du musst ... gehen!
Papa, ich will nicht weg von dir!
Wachen! Nehmt ihn und ... lauft!
Wie habe ich dieses Land gehasst, das ich hinter dem Tor vorfand. Die singenden, blauen Tulpen im Schnee. All seine Wunder und Geheimnisse. Die heißen Quellen, die schillernden Schmetterlinge, die zarten Elfen. Jeder andere Mensch wäre in einen Taumel der Sinne geraten und ganz dem Zauber der Anderswelt erlegen, doch mir widerfuhr es nicht so. Stetig wünschte ich nur meinen Vater an meine Seite, mit der Zeit immer deutlicher verstehend, dass er dieser Wunder niemals angesichtig werden würde. All die Farben, die wundersamen Wesen, würde er niemals sehen. Niemals die Gesänge hören oder die Düfte riechen.
So bestimmte Trauer meine Zeit im Elfenreich. Trauer lenkte meine Schritte im Tanz der Pilzkreise und Trauer verdunkelte die Farben für meine Sinne. Nur diese war es, die mich rettete. Die mich mich des Zaubers erwehren ließ.
Nun ist es so weit. Einhundert Jahre sind im Reich der Menschen vergangen, hier dagegen waren es nur wenige. Wen ich kannte, wird tot sein. Eine Rückkehr in dieses Reich wird mir nicht beschieden sein. Ich kehre zurück, betrete erneut eine fremde Welt.
Nach einem tiefen Atemzug durchtrete ich das Tor und kehre zurück in eine Welt, die fahl und grau erscheint und dabei so viel weniger gefährlich ist. Wo es nur Wölfe und Bären sind, die ich fürchten muss, und natürlich die Menschen.
Lebewohl, Anderswelt. Nun muss ich erfahren, was damals geschah, vor einhundert Jahren. Haben die Angreifer den Thron geraubt, oder konnte mein Vater sich ihrer erwehren? Und welches Schicksal war ihm beschieden? Wie mag sie sich erweisen, die fremde Heimat? Wird mir hier endlich Glück vergönnt sein? Kann ich womöglich gar zurückkehren in mein Reich?
Oder bin ich dazu verdammt, Wanderer zu bleiben, nirgendwo jemals hinzugehören und stetig auf der Suche nach etwas, das schon lange verloren ist?