Schreie. Wehklagende Schreie, voller Schmerz, Furcht und Pein. Rikhon hörte sie immer näher. Bis sie so laut waren, dass er es kaum aushielt.
Mørliga ließ ihn nicht los. Sein Griff war fest, und obwohl Menschen stärker als Elfen waren, hatte er keine Mühe, Rikhon mitzuziehen.
»Wir sind da.« Mørliga drückte ihn nach unten. »Wir müssen ein bisschen kriechen. Schieb dich so lange nach vorne, bis du ein Seil spürst. Und dann schließ am besten die Augen.«
Rikhon wollte fragen, was das werden solle, doch der Elf zischte so drohend, dass er lieber die Klappe hielt und tat, was er verlangte. Vorsichtig legte er sich auf den Boden und schob sich vorwärts.
Er fühlte etwas Glattes an seinem Mantel und der Hose. Aus was bestand bloß der Boden? Rikhon beschloss, dass es jetzt Wichtigeres gäbe, über das man nachdenken sollte, als komische Böden.
Bald ertasteten seine Finger ein Seil, wie Mørliga gesagt hatte. Der Chronistenkrieger zog daran und kniff blitzschnell die Augen zusammen. Ein Bersten. Splitter regneten auf ihn herab, schnitten ihm in die Haut. Rikhon barg den Kopf in den Armen, bis der Splitterregen aufhörte. Erst dann wagte er zaghaft, aufzublicken.
Als er sah, was sich vor ihm abspielte, öffnete er den Mund, doch bevor er rufen konnte, pressten sich schmale Finger auf seine Lippen und erstickten den Schrei.
»Bleib, wo du bist. Überlass es mir, Fanó dort rauszuholen, ja? Wenn sie dich bemerken, hab ich einen neuen Untertan, und glaub mir, ich bin sehr froh, wenn ich dich nie mehr wieder sehen muss!«
Das beruhte auf Gegenseitigkeit. Rikhon wollte Mørliga am liebsten so fest prügeln, dass der Elf seine freche Schnauze überdachte. Aber er blieb stumm und dachte an die Worte im geflüsterten Wind: Die Schuld wird mit geweihtem Wasser beglichen. Das ewige Licht wird ihn verbrennen, wenn es blaues Feuer trifft. Ein Kämpferherz wird nicht stark genug sein, um den Segen empfangen zu können. Nur das Tier aus dem Abgrund kann erlösen.
Das Tier aus dem Abgrund. Mørliga. Rikhon blieb still und beobachtete, was geschah.
Fanóla hing gefesselt an einem Pfahl. Aus einer Kopfwunde tropfte dunkles Blut. Er schien nicht bei Bewusstsein zu sein. Mørliga trat auf seinen Bruder zu. Sogleich wichen die Schatten unter dem Pfahl beiseite. Es handelte sich um zwei Schlangen, Charun und Ahriman. Sie blickten den Elfen an, der in einer fremden Sprache mit ihnen redete. Klappern und Rasseln kündigten einen weiteren Dämon an.
Mørliga streckte die Handflächen nach vorne, und das Skelett, mit einem Steinmesser bewaffnet, blieb stehen.
Rikhon spürte plötzlich Wind. Ein heftiger Stoß fegte fast seinen Hut vom Kopf, doch ihm gelang es gerade noch rechtzeitig, ihn auf die Haare zu pressen.
»Sei gegrüßt, Samael!«, sagte Mørliga zu der Gestalt, die wie aus dem Nichts vor ihm auftauchte. Ein Engel, aber nicht so wunderschön, wie es in den Geschichten immer dargestellt wurde. Dieser hier trug zerrissene Gewänder und die Flügel hingen schlaff nach unten. Das Gesicht jedoch zeugte von Anmut und kalter Ignoranz und Verachtung gegenüber Sterblichen.
»Der Herr ist wieder da!«, sang Samael mit samtener Stimme.
»Ja, ich bin wieder da. Und ich begleiche die Schuld meines Bruders. Also, wo ist der Dämon, dem er den Aufenthalt hier zu verdanken hat?« Mørliga sah Samael fest an. Ein kleines Lächeln und eine Geste auf Fanóla sagten alles. Der Elf nickte, sprang plötzlich mit einem gewaltigen Satz hoch und verwandelte sich noch im Sprung.
Die Splitter, die zuvor auf Rikhon gerieselt waren, tauchten wieder auf und hielten nun auf die Dämonen zu, die kreischend zurückwichen. Der Lyfux öffnete weit das Maul. Es war mit einem Mal totenstill. Samael und die anderen Dämonen rührten sich nicht. Sie wussten, Mørliga war der Herr über den Abyssos. Die Splitter spiegelten gruselige Fratzen wider. Rikhon schloss die Augen, weil er den Anblick nicht ertragen konnte, riss sie jedoch sogleich wieder auf, denn nun ging Mør in seiner ursprünglichen Gestalt zu seinem Bruder. Der dunkle Elf legte Fanóla den Daumen an die Stirn.
»Et ostendit mihi fluvium aquae vitae splendidum tamquam cristallum procedentem de sede dei et agni«, flüsterte er. (*)
Zu seinen Füßen tat sich der Boden auf und ein sprudelnder Quell Wasser wuchs zu einem Fluss, der sich rasch durch die Schwärze wand und in ihr verschwand. Rikhon glaubte, ein Schaf »Mäh« machen zu hören.
Mørliga tauchte die Hände in das Wasser und begann, Fanóla damit zu waschen. Kaum trafen einige Tropfen auf die Platzwunde, schloss sich diese wie von Magie. Dann befreite er seinen Bruder von dem Pfahl und schleppte ihn zu Rikhon.
»Trag ihn. Ich gehe voran und kümmere mich um die Dämonen. Sie werden jetzt wild sein. Bleib nicht stehen und lass Fanó nicht fallen oder los! Hast du verstanden?« Mørliga musterte Rikhon ernst. Der Chronistenkrieger nickte, blickte besorgt auf seinen wiedergefundenen Mitbewohner und barg ihn sorgsam in seinen Armen.
»Alles wird gut, mein Freund. Alles wird gut!«, flüsterte Rikhon Fanóla zu. Mit diesen Worten als gesprochenes Licht in der Dunkelheit folgte er Mørliga zurück, während die Splitter hinter ihnen klirrend zusammenfielen und kaum, dass sie den Boden berührten, verschwanden.
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(*) Und er zeigte mir einen lautern Strom des lebendigen Wassers, klar wie ein Kristall; der ging aus von dem Stuhl Gottes und des Lammes. (Bibelverse.de; Offenbarung des Johannes – Kapitel 20)
Liste der Dämonen; unter www.daemonen.de
Cham-Er
(Guatemaltekisch: Ah Tcam-Er)
Der Todesdämon, als Skelett auftretend, der mit einem Steinmesser den Todesstoss ausführt.
Charun
(ertruskischer Todesdämon)
Charun ist Totenführer, Wächter und Peiniger der Toten in der Unterwelt
Er wird als Mischung versch. Tiere dargestellt (vgl. griech. Charon)
Ahriman
(iranisch 'böser Geist')
Ahriman ist der Herr über 9999 Krankheiten und Gott der Finsternis, der in der Unterwelt lebt. Er ist der Führer der Daevas und Drujs. Sein Symboltier ist die Schlange.
Samael
(aramäisch: Gift Gottes)
Er ist der Todesengel und das Haupt aller Dämonen. Mit seiner Partnerin Lilith regiert er das Reich des Bösen und der Unreinheit.