»Zuhause in Sicht!«, rief Rikhon und jubelte. Nirug flatterte schneller mit den Flügeln, und Mør packte seinen Bruder fester, damit er nicht herunterfiel. Unter ihnen erstreckten sich Belletristicas Weiten. Wälder, Felder, die Taverne, die bösen Kastanienbäume, liebliche Blumenwiesen …
»Fanó, du bist wieder daheim«, flüsterte Mørliga, allerdings so leise, dass niemand ihn hören konnte, noch nicht einmal Nirug, der sehr scharfe Ohren hatte.
Fanóla regte sich nicht. Mør wäre zu gern auf eine Seelenwanderung gegangen, um seinen Bruder zwischen den Grenzen zu treffen, denn dort war Fanó, ganz sicher, aber nicht auf einem fliegenden Drachen, der ein solch scharfes Tempo vorlegte.
»Hey, Nirug, flieg mal bitte langsam!«, bat Mørli seinen Kumpel, doch Nirug hörte nicht.
Innerhalb weniger Minuten hatten sie die Taverne erreicht und nicht nur der schwarze Elfenjunge war froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Die Freude allerdings wich ganz schnell der drohenden Ahnung einer herannahenden Katastrophe.
Gerade als Rikhon Fanóla von Nirugs Rücken gehoben hatte, wurde die Tavernentür aufgestoßen und eine schwarz gekleidete, hochgewachsene Gestalt trat heraus. Der Dunkle Lord Ben höchstpersönlich! Der Herrscher über Belletristica.
Rikhon und Nirug verbeugten sich, aber Mørliga blieb kerzengerade stehen, straffte die Schultern und sah dem Lord furchtlos in die Augen.
»Solltest du nicht hinter den Spiegeln sein, dunkler Elfenbruder?«, sagte Ben leise.
»Die Winde haben meinen Namen gerufen und die Spiegel mir das Schicksal gezeigt. Ich entstieg dem Meer, um die Prophezeiung der Mächte zu erfüllen. Mein Bruder ist dem Abgrund entronnen und dennoch an Ketten der Finsternis gebunden, aus denen ich ihn befreien muss.« Die Worte kamen zwar aus Mørligas Mund, doch zugleich schien der Wind seine Stimme von überall her zu tragen.
Bens Miene zeigte keinerlei Regung. Mørliga wandte den Blick nicht von den Augen des Dunklen Lords, als dieser das Wort ergriff.
»Wenn ich dich richtig verstehe, möchtest du deinen Bruder retten und als Belohnung dafür hier in Belletristica bleiben. Ich fürchte, deinem Wunsch kann ich nicht nachkommen. Du hast dir letztes Jahr zu viel geleistet, und es ist ein Glück für dich, dass Fanóla dich hinter die Spiegel geschickt hat, und deine Verbannung somit nicht durch uns erfolgte.«
Rikhon räusperte sich auf einmal und ergriff ungefragt das Wort. »Lord Ben, Mørliga …«, setzte er an, doch sowohl Ben als auch Mør warfen ihm einen strengen Blick zu, sodass der ansonsten redselige und mutige Chronistenkrieger ungewohnt schüchtern wurde.
Nirug hatte da weniger Hemmungen. »Mørli nei böse! Mørli lieb, Mørli Nirug Naarrrmm!«
Für eine Sekunde entgleisten Ben die Gesichtszüge. »Wie bitte?«, fragte er verständnislos. Des Nirugischen war er leider nicht mächtig, weshalb er die Äußerungen des Drachen nicht verstand.
Mørliga unterdrückte ein Schmunzeln und erklärte todernst, dass Nirug und er Freunde seien und er nicht böse sei, sondern lieb.
Ben schwieg. Der schwarze Elfenjunge wartete geduldig ab. Schließlich schien der Dunkle Lord eine Entscheidung getroffen zu haben.
»Du kannst hier bleiben und deinen Bruder heilen. Aber wenn die Winterdämonen einfallen, will ich dich hier nicht mehr sehen, verstanden? Wir haben in dieser Zeit genug zu tun!« Streng sah Ben Mør an, der jedoch den Kopf schüttelte.
»Wenn du erlaubst, möchte ich euch, so gut es geht, beim Kampf gegen die Winterdämonen unterstützen. Vorausgesetzt, Fanóla ist bis dahin nicht geheilt. Ansonsten wird er mich nämlich wieder hinter die Spiegel verbannen.«
Ben zog die Augenbrauen hoch, doch Mørliga dachte gar nicht daran, sich für die unpersönliche Anrede zu entschuldigen. Schließlich war er ebenso Herrscher über ein Reich wie Ben.
»Lass mich das in Ruhe überlegen und mit den anderen im Herrscherkreis abklären! Ich gebe dir durch einen Boten Bescheid!«, sagte der Lord und wandte sich halb ab, drehte sich jedoch nochmal um. »Wenn Fanóla durch dich etwas zustößt, dann sorge ich höchstpersönlich dafür, dass du für alle Zeit aus Belletristica verbannt wirst und dieses Reich nie mehr betreten kannst! Hast du verstanden, schwarzer Elfenbruder?«
Als Mørliga zögernd nickte, wandte sich Ben endgültig ab und stapfte mit schweren Schritten davon.