Bemerkung des Autors: Ally242: Tja blue, ich freu mich, dass du dich freust ... Weißt was mich beschäftigt? Ich frag mich, warum zu Thanksgiving ein Puter auf den Tisch kommt. Warum servieren wir keine edle Gans? Gibt es eine alte Überlieferung, die den Puter vor der Gans nennt, oder ist es eine Glaubenfrage? Vielleicht haben ja auch die Gänse ihre Federn im Spiel ... Was auch immer der Grund dafür ist, du wirst es uns sicher erklären können Schönen Tag noch, Ally-Gans *** Es sind leider zwei Gänse daraus geworden. Die erste, versuchsweise lustige gefiel mir nicht und so hab ich eine traurige verbrochen, die mir auch nicht gefällt. Und da ich nicht weiß, welche schlimmer ist, nehme ich mir die Freiheit und poste ich einfach beide. ***
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Bluey stand völlig genervt vor der Entenklasse, die vertretungsweise betreute. Warum nur hatte sie sich das angetan? Sie war noch nicht ganz eine Stunde hier und hatte schon dröhnende Kopfschmerzen.
Die kleinen Enten schnatterten ständig aufgeregt durcheinander und konnten kaum zwei Minuten stillsitzen. Immer wieder rannten sie einzeln oder in zum Gänsemarsch aufgereihten Grüppchen durch den Raum. Aber am Schlimmsten war, dass sie andauernd forderten, dass Bluey den Ententanz tanzen sollte und sich dann vor Lachen kugelten. Alles nur, weil sie mit den Hufen keine Schnatterbewegungen hinbekam.
Den Supergau erreichte der Tag, als Bluey feststellte, dass sie den Zeigestock nur mit dem Maul halten konnte, wenn sie dabei die Lippen öffnete und den Kopf schief legte. Leider führte das zu unappetitlichen Szenen, die die Enten fast zum Totlachen brachten.
Einzig ein einsamer Pinguin, der mit einer leuchtend roten Badehose bekleidet war, saß still in der hintersten Ecke und sah dem munteren Treiben gelassen zu. Schließlich, als es gar zu schlimm wurde, hob er den Flügel und bat um eine Geschichte.
„Erzähl uns doch, warum es zu Thanksgiving Truthahn und keine Gans gibt.“
Sofort wurden die kleinen Entchen ruhig und sahen Bluey erwartungsvoll an. Eine Geschichte hörten sie immer gerne. Das Pony ließ sich nachdenklich auf der Hinterhand nieder.
„Na, ich weiß ja nicht…“
„Bitte, bitte, bitte“, schnatterten die kleinen Enten im Chor.
„Seid ihr dann auch brav und sitzt still auf euren Plätzen?“, fragte Bluey.
Die Kleinen nickten synchron.
Das Pony lächelte erleichtert. „Wisst ihr denn, wer Thanksgiving erfunden hat?“
„Die Pilgerväter“, rief eine vorwitzige Ente vorne links.
„Die Schweizer“, quakte eine andere. „Riiiiiiicoooo…“
Schon hielten ihre zwei Nachbarn den Schnabel zu. „Wir sollen doch brav sein“, zischten sie.
Bluey tat so, als hätte sie davon nichts mitbekommen. „Beides falsch. Lange bevor die Pilgerväter überhaupt wussten, was Amerika ist, haben die Indianer Thanksgiving erfunden, besser gesagt, Coyote war’s.“
Sie erntete fragende Blicke für ihre Ausführungen.
„Wer ist dieser Coyote?“, fragte eine Ente neugierig, hielt sich dann aber den Flügel vor den Schnabel.
„Das ist ein guter Geist aus der indianischen Mythologie. Hierzulande wäre er wohl mit dem Fuchs zu vergleichen.“
Bluey erkannte zu spät, wie ungeschickt die Nennung des größten Entenfeindes war. Sofort raschelten überall die Flügel, es wurde gewispert und gezittert. Offensichtlich war die Erwähnung des F-Worts unerwünscht.
„Niemand spricht diesen Namen aus“, flüsterte eine der Enten schließlich. „Sonst kommt ‚Der, Dessen Name Nicht Genannt Werden Darf’ und frisst einen im Schlaf.“
„Da mach ich mir keine Sorgen. Ich bin zu groß und schmecke nicht“, entgegnete das Pony gelassen. Es ignorierte das leise Geschnatter und setzte seine Geschichte fort: „Coyote wollte, dass die Indianer ihrem Schöpfer für die reiche Ernte danken. Dafür sollte dem Großen Geist ein besonderes Tier geopfert werden. Leider wussten sie nicht, welches sie dafür nehmen sollten. Büffel, Gazellen und Hirsche waren Symbole der Jagd. Daher eigneten sie sich nicht zu diesem Zweck. Also musste es ein Tier sein, dass bei den Tippis lebte und ein Haustier der Indianer war. Damit blieben nur Pferde, Hunde, Truthähne und Gänse übrig. Einem von ihnen sollte nun die Ehre zu Teil werden, sich für das Lob des Großen Geistes opfern zu dürfen.“ Bluey bemerkte amüsiert, dass ihr die Kleinen nun gespannt lauschten. „Die Indianer riefen einen Rat zusammen, der über diese Frage befinden sollte. Schnell war den Anwesenden klar, dass sich das Opfer von den Früchten des Feldes ernähren sollte, da es dann ebenfalls von der guten Ernte profitierte und in ertragreichen Jahren besonders fett war. Damit schieden die Hunde und die Pferde aus, schließlich wurden damals nur die Truthähne und Gänse mit Körnern und Bohnen gefüttert.“ Sie seufzte leise. „Stellt euch das vor: Wir Pferde durften nur Gras fressen. Ein Leben ohne Möhrchen und Hafer, ohne Brot und Äpfel. Nur schnödes, langweiliges …“ Der Pinguin unterbrach sie mit einem Räuspern. Sie lächelte entschuldigend. „Verzeiht, wo war ich stehen geblieben?“
„Du sitzt doch“, rief eine der kleinen Enten und erfüllte damit die Flachwitzquote.
Bluey runzelte unwillig die Stirn, unterdrückte aber einen Kommentar. Stattdessen fuhr sie mit ihrer Geschichte fort: „Nun waren also nur noch Truthähne und Gänse übrig. Welches dieser beiden Federviecher sollte nun das Opfer sein? Die Indianer redeten und redeten, was für sie ganz und gar untypisch war, doch sie kamen zu keinem Ergebnis. Schließlich beschlossen sie, dass eine Gans und ein Truthahn gegeneinander kämpfen sollten, um so zu entscheiden, welches Tier als Opfer würdig war.“
„Wow, ein Kampf? So richtig mit fiesen Schnäbelattacken und Krallentritten?“, begeisterte sich ein etwas pummliger Erpel.
Das Pony schüttelte entsetzt den Kopf. „Nein, so etwas doch nicht.“ Woher nahmen die Kleinen nur diese Phantasien? „Das Opfer sollte doch unverletzt zum Großen Geist geschickt werden. Nach einem derartigen Kampf wäre es nicht mehr sehr ansehnlich gewesen.“
„Langweilig“, rief eine der Enten. „Es ist doch klar, dass der Truthahn gewonnen hat. Und so ganz ohne einen ordentlichen Schnabelfight …“
Bluey schnaubte. „Na, dann brauche ich nicht weiterzuerzählen.“
Sofort schnatterten die anderen Entchen los und baten sie, nicht auf die vorlaute Quakliese zu hören. Sie wollten doch alle wissen, wie es weiterging.
„Also gut.“ Das Pony seufzte innerlich. Es hatte gehofft, endlich aus dieser Nummer herauszukommen. „Der Wettstreit bestand aus drei Disziplinen. Wer zwei davon gewann, wäre der Sieger und durfte als Opfer herhalten.“ Es überlegte einen Moment. Geschichten aus dem Stehgreif zu erzählen, war gar nicht so einfach, wie es gedacht hatte. „Die erste Disziplin war das Wettschwimmen.“
Die kleinen Enten kicherten. „Der Truthahn ist bestimmt gesunken wie ein Stein.“
Bluey grinste breit. „Stimmt nicht ganz. Dafür hätte er erst einmal ins Wasser gehen müssen, doch der Puter traute sich nicht einmal mit der großen Zehe hinein.“
„So ein Feigling“, zischte der pummelige Erpel.
Sie ignorierte diesen Einwurf. „Die Gans, die bereits fröhlich quakend herumpaddelte, gewann also ohne Mühe.“ Sie verstummte, denn sie wusste nicht, wie sie fortfahren sollte.
Zum Glück halfen ihr die kleinen Enten weiter, die aufgeregt Fragen schnatterten: „Was sollten sie dann machen? Was war die nächste Disziplin?“
„Sie mussten um die Wette laufen oder besser watscheln. Richtig laufen kann man das ja nicht nennen, was ihr Zweibeiner da so betreibt.“
Die Enten quakten empört. „Gib doch nicht so an. Hätten wir vier Beine, wären wir viel schneller als du.“ Eifrig wurden hier und da Schnäbel gewetzt und Pläne zur Züchtigung des Ponys wegen dieser prahlerischen Worte geschmiedet.
Wieder war es der Pinguin, der die Stimmung rettete. „Wie ging denn das Wettrennen aus?“
Bluey beeilte sich fortzufahren, bevor die kleinen Enten noch auf dumme Gedanken kamen: „Es war super knapp. Truthahn und Gans watschelten wie die Wilden und lagen eine lange Zeit Kopf an Kopf. Doch dann rief der Puter seiner Gegnerin zu, dass ihr Schnürsenkel offen sei. Einen Moment irritiert blieb die Gans stehen und starrte auf die Füße, bis ihr einfiel, dass sie überhaupt keine Schuhe trug. Doch es war bereits zu spät. Der Truthahn hatte das Ziel erreicht und diese Disziplin gewonnen.“
Die Enten buhten lauthals. „So ein Betrüger.“
„Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt.“ Bluey zuckte mit den Schultern. „Im Endeffekt war es für die Gans sogar von Vorteil, dass sie das Rennen verloren hatte. Nach dem zweiten Wettkampf begann sie nämlich zu grübeln und überlegte, ob es wirklich so reizvoll wäre zu gewinnen. Schließlich hieße das für sie und ihre Nachkommen, dass sie für alle Zeiten an Thanksgiving zu Ehren des Großen Geistes geopfert würden. Auch wenn sie eine absolute Sportsgans war und gerne gewonnen hätte, behagte ihr der Siegerpreis nicht so richtig. Als nun die nächste Teildisziplin, das Weitspringen, aufgerufen wurde, wusste sie nicht so recht, ob sie sich wirklich anstrengen sollte, um Erste zu werden.“ Bluey war aufgestanden und lief nun begleitet von theatralischen Gesten vor den kleinen Enten auf und ab. „Der Truthahn sprang zuerst.“ Sie ahmte während ihrer Erzählung die Bewegungen des Federviehs nach. „Er ging in die Knie, spannte alle Muskeln an, wählte mit dem Bürzel den richtigen Winkel und dann sprang er ganz weit.“ Sie schnellte ebenfalls vorwärts, unterschätzte aber die eigene Kraft und prallte beinah mit dem Kopf gegen die Wand. Doch niemand lachte. Zu spannend war die Frage, wie die Gans sich entscheiden würde. „Nun war die Gans an der Reihe. Auch sie ging in Position.“ Wieder illustrierte das Pony die Bewegungen durch Nachmachen. „Sie wollte gerade abspringen, als sie erkannte, dass ihr ihr eigenes Leben wichtiger war, als der Sieg. Statt wie der Truthahn nach vorne zu springen, machte sie einen Satz rückwärts und überließ ihm so den ersten Platz.“ Bluey hatte einen Sprung nach hinten gemacht und stand nun wieder an ihrem ursprünglichen Platz hinter dem Pult. „Coyote, der den Wettkampf als Schiedsrichter verfolgt hatte, erklärte den Puter zum Sieger. Der Truthahn war natürlich begeistert von seiner Leistung und stolzierte mit geschwellter Brust zu den Indianern hinüber. Die griffen ihn und …“ Sie brach ab. „Na ja, das erzähl ich euch, wenn ihr alt genug dafür seid. Auf jeden Fall wird seit diesem Tag Truthahn zu Thanksgiving gegessen.“ Das Pony grinste verschmitzt. „Allerdings hat sich der Puter grausam gerächt und dafür gesorgt, dass jede Gans zwei Wochen vor ihm daran glauben muss. Aber das, meine lieben Enten, ist die Geschichte, wie es zur Martinsgans kam. Die erzähl ich euch vielleicht ein anderes Mal.“
„Ooch", riefen die kleinen Enten bedauernd.
Bluey ließ sich nicht erweichen, sondern klatschte in die Hufe und forderte die Kleinen auf, ein Bild zu der Geschichte zu malen.
Während die Entchen lauthals protestierten und maulten, verkrümelte sich der kleine Pinguin klammheimlich. Doch Bluey bemerkte es trotzdem und folgte ihm auf den Flur.
„Wo wollen wir denn hin?“, fragte sie streng. „Der Unterricht ist noch nicht vorbei.“
Der Pinguin drehte sich zu ihr um und sah sie mit hochgezogener Augenbraue an. „Glaubst du wirklich, dass ich noch zur Schule gehe?“
Das Pony wurde so rot wie die Badehose des Pinguins. „Nun ja…“ Sie deutete verschämt auf das scheinbare Corpus Delicti. „Das sieht aus, als hätte es deine Mutter ausgesucht.“
Jetzt wurde der Pinguin ebenfalls rot, allerdings vor Wut. „Ich hab eine Wette verloren“, fauchte er.
„Oh, das tut mir leid. Also, das mit der Wette. Und mit der Badehose.“
Der Pinguin grinste versöhnlich. „Machen wir einen Deal: Du sagst nie wieder etwas über dieses seltsame Kleidungsstück und ich weise dafür niemanden auf die Unlogik deiner Geschichte hin.“
Das Pony lächelte zurück. „Welches Kleidungsstück?“
Der Pinguin nickte zufrieden und watschelte über den Flur davon. „Welche Unlogik?", rief er noch, als Bluey seufzend zu ihren Entchen zurückkehrte.