Yukikos Schlaf war tief und traumlos. Letztendlich war die Erschöpfung – und nicht nur die körperliche, sondern besonders auch die emotionale – stärker gewesen als ihr Unwille, ihre Angst vor den schrecklichen Albträumen, mit denen sie fest an für sich fest gerechnet hatte. Wenigstens vor denen haben die Himmelsgeister sie verschont.
Sie wusste nicht, wie lange sie wohl geschlafen hatte. Als sie schließlich erwachte – die Sonne stand bereits hoch am Himmel – war sie im ersten Moment ungemein verwirrt; sie wusste nicht, wo sie sich überhaupt befand oder wie sie wohl in diesen Wald gelangt war. Als nur wenige Sekunden später die Erinnerungen zurückkehrten, wünschte sie sich, dass ihr ihre selige Unwissenheit noch etwas länger erhalten geblieben wäre:
Die Eindrücke der vergangenen Nacht überkamen sie mit voller Wucht. Der plötzliche Angriff, ihre hektische Flucht, ihre Begegnung mit dieser schrecklichen Frau...
Sakuyas Tod.
Yukiko spürte, wie ihre Augen sogleich wieder zu brennen begannen. Ihr Sichtfeld trübte sich ein, ihr Körper wurde von einem leichten Zittern erfasst. Sie konnte, wollte es noch immer nicht glauben. Hatte es nicht genügt, dass man ihr schon Hikaru genommen hatte? Wieso hat es auch noch ihre Mutter treffen müssen? Was hatte sie nur getan, um das zu verdienen? Langsam und kraftlos öffnete Yukiko ihre Hand; sie hielt die Haarnadel ihrer Mutter noch immer fest umklammert.. Das einzige, das ihr nun noch von Sakuya geblieben war.
Das Blut, welches nun auch an Yukikos blasser, aufgeschürfter Haut klebte, war inzwischen getrocknet, das Metall war warm und von Feuchtigkeit beschlagen. Schon allein der Anblick dieser kleinen Haarnadel genügte, um das Mädchen mit voller Wucht in jenen Gemütszustand zurückzuschleudern, in dem sie sich gestern Nacht befunden hatte.
Innerlich zerrissen, von Trauer und Schmerz überwältigt und – was auch nicht gerade unwesentlich war: Hasserfüllt. Sie konnte es sich einfach nicht erklären; warum nur hatte sich die Amemiya-Familie gegen sie die Asatsuyus gewandt? Waren Tomoe und Sakuya nicht eigentlich Freundinnen gewesen? Steckten wirklich sie dahinter oder waren noch andere Kräfte am Werk?
Was, im Namen der Himmelsgeister, wurde hier nur gespielt? Yukiko hatte keine Antworten auf diese Frage, wobei sie momentan ohnehin nicht dazu in der Lage war, ernsthaft darüber nachzudenken. Ja, in ihrem Zustand war das absolut undenkbar.
„Junge Herrin, Ihr seid wach! Wie fühlt ihr Euch?“
Yukiko, die zu tief in ihren eigenen Sorgen und Gedanken vertieft gewesen war, schreckte auf, als sie die wohlbekannte Stimme hörte. Katsuya, der bis gerade eben an einem kleinen, nahegelegenen Tümpel gekniet hatte, erhob sich mit sichtbarer Schwerfälligkeit und wandte sich dem Mädchen zu. In seiner Miene spiegelte sich eine Mischung aus Erleichterung und Sorge wider. Yukiko blinzelte und richtete sich auf; erst jetzt nahm sie ihre Umgebung wirklich zur Kenntnis.
Nun, da die warmen, hellen Sonnenstrahlen durch das Blätterwerk einfielen, wirkte der Laubwald nicht mehr so bedrohlich, wie er es zuvor getan hatte. Der Duft von Holz und feuchten Blättern lag in der Luft, in der Ferne war das Rauschen des Flusses zu hören. Einige Vögel sangen ihre Lieder, Insekten zirpten.
Ein friedliches Bild, das einen vollkommenen Kontrast zu Yukikos Gefühlswelt bildete.
„Katsuya...“, setzte sie mit leiser Stimme an, brach dann jedoch ab.
Was sollte sie denn schon zu ihm sagen? Dieser kam langsam auf sie zu. Er sah genauso erschöpft und niedergeschlagen aus wie sich das Mädchen momentan fühlte, schaffte es aber trotzdem, ein erleichtertes Lächeln aufzusetzen.
„Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie froh ich bin, dass Ihr unbeschadet entkommen seid! Einige Zeit lang dachte ich tatsächlich -“
Er brach ab und schüttelte den Kopf.
„Ihr seid am Leben und das ist alles, was für mich zählt.“
Yukiko gab ihm keine Antwort. Stattdessen senkte sie ihren Blick und zog ihre Beine näher an ihren Körper, kauerte sich geradezu gegen den großen, dicken Baum, der sich hinter ihr erhob. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie noch immer sein Obergewand trug. Eigentlich wollte sie es ihm zurückgeben, doch mit einem Mal fühlte sie sich zu kraftlos, um überhaupt noch irgendetwas zu tun. Es war so, als würde sie in einen tiefen, dunklen Abgrund stürzen.
„Katsuya, Mutter ist...“
Sie brachte es nicht über sich, es auszusprechen. Sie vergrub ihr Gesicht in ihren Händen, in der Hoffnung, dadurch die Tränen, die sich wieder in ihren Augen zu sammeln zu begannen, zu verbergen.
Katsuya schwieg einige Momente lang. Dann, langsam und zögerlich, setzte er sich vor ihr auf den Boden – Yukiko hörte, wie das trockene Laub leise raschelte.
„Es tut mir so Leid, junge Herrin“, murmelte er mit leiser Stimme. „Doch wisst Ihr, wir haben diesbezüglich nur Fräulein Rihos Wort – möglicherweise hat sie sich geirrt und die Herrin ist noch am Leben.“
Dieser Gedanke war ihr selbstverständlich ebenfalls schon gekommen, doch sie hatte ihn sehr rasch verworfen; es war sinnlos, sich falscher Hoffnungen hinzugeben.
„Riho irrt sich nicht“, entgegnete sie heiser. „Wenn sie es sagt, dann... Und überhaupt, die Haarnadel...“
Mühevoll unterdrückte sie ein Schluchzen.
„Die Amemiya... Sie haben uns verraten, oder? Warum nur? Sag' es mir – warum haben sie das getan? W-Womit habe ich... das nur verdient?“
Spätestens jetzt konnte sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Rasch drehte sie sich von Katsuya weg, in der Hoffnung, dadurch von ihm nicht in diesem Zustand gesehen zu werden. Ihre Finger schlossen sich fest um die goldene Haarnadel, so, als wäre sie ein Anker, der sie davor bewahrte, vollkommen von ihrer Verzweiflung weggeschwemmt zu werden.
Wieso nur musste es so unerträglich schmerzen? Warum nur konnte Yukiko nicht stärker sein? Wäre sie so wie Riho, dann wären die Dinge gewiss niemals so weit gekommen... Dann wäre Yukiko selbstbewusst und mutig genug gewesen, um diesen abstrusen Heiratsplänen ihrer Eltern zu widersprechen, womit sich auch dieser unselige Besuch erübrigt hätte. Selbstverständlich wäre Sakuya äußerst wütend auf ihre Tochter gewesen, aber wenigstens wäre sie dann noch am Leben.
Alles hätte anders enden können, wenn Yukiko nicht so wäre, wie sie nun einmal ist.
„Nein, das habt Ihr nicht verdient – weder Ihr noch die Herrin. Ich kann Euch leider auch nicht sagen, was in den Köpfen der Amemiya vor sich geht, aber es kann nichts Gutes sein.“
Nein, das auf keinen Fall, schließlich haben sie Sakuya nicht grundlos das Leben genommen. Yukiko ließ ihre Arme sinken und sah langsam wieder auf. Ihre Augen waren noch immer feucht und gerötet, ihre Unterlippe bebte. Als sich ihrer und Katsuyas Blick trafen, wandte letzterer sofort den seinigen ab. Einige Augenblicke lang hatte er so gewirkt, als wollte er ihr tröstlich die Hand auf die Schulter legen, entschied sich jedoch rasch anders. Es überraschte sie kaum, dass er diese Grenze nicht überschritt, nahm er die Hierarchie doch sehr ernst – zumal er es ja noch nicht einmal wagte, ihr in die Augen zu schauen.
In Momenten wie diesen wünschte sich Yukiko, dass es anders wäre.
Ein unangenehmes Schweigen machte sich zwischen den beiden breit. Die rastlosen Gedanken des Mädchens wanderte unablässig umher, kehrten letztendlich jedoch immer zu Sakuya zurück. Was würde nun aus der Familie werden? Zwar hatte Yukiko selbstverständlich noch ihren Vater, aber die viele der alltäglichen Geschäfte und ein Großteil der Verantwortung war bei ihrer Mutter gelegen. Gewiss würde der Haushalt nun unter die Obhut einer anderen Verwandten, einer Tante oder Cousine ihres Vaters gestellt werden. Doch egal, was nun kommt, nichts und niemand würde Sakuya jemals ersetzen können, soviel stand fest.
Familie... Ohne dass sie es verhindern konnten musste sie an diese Frau, Misato, denken. Zwar konnte sie sich nicht mehr an den genauen Wortlaut erinnern, aber diese schreckliche Person schien einen ziemlichen Groll gegen den Asatsuyu-Klan zu hegen. Wäre sie Tomoe und Shougo keine Rechenschaft schuldig gewesen, so hätte Misato Yukiko mit ziemlicher Sicherheit umgebracht und das auf eine äußerst schmerzhafte und langsam Weise.
Es war zu viel geschehen, so viele Dinge, die sie nicht verstand, die sie überforderten. Wahrscheinlich war sie auch schon dabei, einen Teil davon zu verdrängen, wenn auch hauptsächlich deswegen, um sich selbst zu schützen.
„Hat sie dir wehgetan?“, fragte sie nach einer Weile mit heiserer, tonloser Stimme.
Katsuya strich sich verwirrt durchs Haar.
„Verzeiht, aber wovon sprecht Ihr, junge Herrin?“
„Diese Frau, Misato... Sie hat von dir gesprochen. Sie wollte dir wehtun! I-Ich habe ihr gesagt, dass ich das nicht möchte, aber sie hat sich nur über mich lustig gemacht...“
Yukiko rieb sich die Augen und wischte die wiederaufquellenden Tränen weg. Diese Misato hatte viele Dinge gesagt – über die Asatsuyu, über Katsuya, aber auch das Wort – oder der Name? - Yayoi war gefallen. Diese Worte und Drohungen haben so schrecklich wehgetan.
Katsuya schüttelte den Kopf.
„Seid unbesorgt, sie hat mir kein Leid getan.“
Yukiko zwang sich zu einem kleinen Lächeln.
„D-Das ist gut, wirklich... Aber du lügst mich doch nicht an, oder?“
„Das würde ich doch niemals tun!“
Wirklich? Das wollte sie nur zu gerne glauben. Yukiko dachte kurzzeitig darüber nach, ihn noch auf diese andere Sache anzusprechen, die Misato in den Raum gestellt hatte; diese Frau hatte ihn einen Akumagenannt, doch das hatte auch Shougo bereits getan. Ja, Katsuya war auf seine Art äußerst seltsam und dass er bemerkenswerte Augen hatte, war auch kaum abzustreiten, aber war er deswegen gleich ein Akuma?
Und selbst wenn dem so war, so wäre er deswegen nicht schlagartig ein schlechterer Mensch. Das einzige, das Yukiko an diesem Gedanken wirklich störte, war, dass er ihr in diesem Falle wohl nicht genügend Vertrauen schenkte, um sie davon wissen zu lassen.
Doch was spielte das momentan auch schon für eine Rolle? Katsuya war augenscheinlich wohlauf und das war vorerst die Hauptsache. Sie hätte es nicht ertragen können, ihn oder Riho auch noch zu verlieren.
Katsuya rückte, wenn auch nur sehr zögerlich, ein Stückchen näher.
„Junge Herrin, ich weiß, dass diese Misato auch mit Euch nichts Gutes im Sinne hat – jedenfalls hat sie daraus keinen Hehl gemacht. Ich... Ich weiß, dass ich kein sonderlich guter Kämpfer bin, aber ich schwöre Euch, dass ich alles tun werde, um Euch vor ihr zu schützen! Versucht also bitte, Euch nicht allzu viele Sorgen zu machen, in Ordnung?“
Yukiko schloss ihre Augen. Sie wusste, dass Katsuya sie damit aufmuntern und beruhigen wollte, aber offensichtlich hatte er da etwas missverstanden: Sie fürchtete Misato nicht, genauso wenig wie die Amemiya. Vielleicht würde sie es tun, sobald ihre Gefühlswelt nicht mehr so aufgewühlt war, wie es gerade der Fall war, doch alles, was sie für diese Personen empfand, war brennender Hass. Riho hatte mit dem, was sie ihr gestern gesagte hatte, vollkommen Recht – Yukiko war in der Pflicht, den Tod ihrer Mutter zu rächen. Und genau das hatte sie auch vor. Koste es, was es wolle, sie würde ihre Feinde nicht ungestraft davonkommen lassen!
Der Gedanke, den Mördern ihrer Mutter eines Tages ihre gerechte Strafe zukommen zu lassen war das einzige, das ihr momentan so etwas wie Kraft gab, das ihre Depressionen und Niedergeschlagenheit zumindest kurze Zeit lang linderten.
Allerdings hatte sie nicht vor, Katsuya in ihr Vorhaben einzuweihen – noch nicht. So, wie sie ihn kannte, würde er sie bestimmt nicht verstehen.
„Danke“, sagte sie daher lediglich. „Das bedeutet mir sehr viel...“
Daraufhin schenkte er ihr ein kleines, aber doch irgendwie glücklich wirkendes Lächeln. Er erhob sich und klopfte sich den Schmutz aus seiner Kleidung.
„Ah, ich sollte dir dein Obergewand zurückgeben!“, bemerkte Yukiko, nachdem sie ihn eine kurze Weile lang beobachtet hatte.
Sie machte bereits Anstalten, ihm das Kleidungsstück zu reichen, doch er schlug es mit einem Kopfschütteln aus.
„Junge Herrin, es ist in Ordnung – ich denke, dass Ihr es nötiger habt als ich.“
An für sich hatte Yukiko protestieren wollen, doch da sie tatsächlich kaum mehr als ihr dünnes Nachtgewand trug, war sein Einwand wahrscheinlich gar nicht einmal so abwegig; zwar war ein Männeroberteil auch nicht wirklich angemessen, doch zumindest würde sie sich damit nicht in allzu große Verlegenheit bringen.
Sie nickte und streifte es sich über.
„Nun gut, wenn du darauf bestehst, sollte ich es nicht ausschlagen. Danke.“
Langsam, gerade mechanisch zog sie den warmen Stoff zusammen und richtete sich so gut es ging her.
„Wo ist eigentlich Riho?“, fragte sie daher gespielt beiläufig.
Bisher hatte sie ihr Kammerfräulein nämlich noch nirgendwo gesehen. Zwar wollte sie es vor Katsuya nicht so deutlich zeigen, aber sie sehnte sich nach der Gesellschaft ihrer Freundin. Riho war ihre Stütze, jene Person, die am besten wusste, was nun zu tun war. Sie verstand Yukiko und das, was sie momentan durchmachte, besser als jeder andere, soviel war sicher.
„Sie ist vor zwei, drei Stunden losgezogen, um die Umgebung auszukundschaften“, erklärte Katsuya. „Sie sollte eigentlich bald wieder zurück sein.“
Yukiko nahm seine Worte stumm zur Kenntnis. Sie wusste, dass Riho sehr wohl dazu fähig war, auf sich aufzupassen, aber dennoch wurde sie das nagende Gefühl der Sorge nicht los. Nach so vielen ruhigen Jahren war sie sich gestern ihrer eigene Vergänglichkeit wieder gewaltsam bewusst geworden – die ihrige, doch die jener Menschen, die ihr wichtig waren. Dieses Gefühl der Macht- und Hilflosigkeit war ihr geradezu unerträglich.
Müde lehnte sie sich wieder gegen den kühlen Baumstamm, ließ ihren Blick gen Himmel schweifen. Die grünen Blätter leuchteten im hellen Licht der Sonne, die als vager, schemenhafter Kreis jenseits der dichten Baumkronen erkennbar war. Die Luft war rein und erfrischend kühl, spielte sanft mit dem Blätterwerk und Yukikos langen Haaren, die ihr offen über die Schultern fielen.
Vielleicht waren all die schrecklichen Dinge, die ihr widerfahren waren, nicht mehr als ein langer, grausamer Albtraum. Möglicherweise würde sie gleich erwachen, sich sicher und wohlbehütet Zuhause in ihrem Bett wiederfinden und einen weiteren, ereignislosen Tag in Angriff nehmen. Sakuya würde bereits im Speisesaal sitzen und Yukiko beim Frühstück dafür rügen, dass sie nicht vollkommen aufrecht dasaß und ihre Manieren angeblich zu wünschen übrig ließen. Danach würde der langwierige, uninteressante Unterricht beginnen, dessen Ende sie jeden Tag sehnsüchtig erwartete.
Ja, alles würde wie immer sein...
Das Mädchen schloss seine Augen. Warum wollte sie sich eigentlich etwas vormachen? Selbst wenn sie es nicht wahrhaben wollte, so würde dies dennoch nichts an der Realität ändern...
Ein Rascheln riss sie aus ihren Gedanken. Sie blinzelte und richtete sich so schnell sie konnte auf. Katsuya für seinen Teil wirkte ziemlich nervös; er stand regungslos da, hielt seinen Blick starr in jene Richtung fixiert, aus der er das Geräusch gehört hatte. Als Riho aus dem Dickicht hervortrat, konnte man ihm regelrecht ansehen, wie die Spannung aus seinem Körper wich. Er trat einige Schritte zurück und sackte sichtlich in sich zusammen. Yukiko hingegen eilte Riho entgegen – sie war einfach nur unbeschreiblich froh, sie zu sehen.
„Wie erfreulich, Euch wohlauf zu sehen, junge Herrin!“
Ein strahlendes, ehrliches Lächeln breitete sich auf Rihos Gesicht aus. Yukiko erwiderte es, auch wenn es ihr noch ein wenig schwerfiel; sie ergriff die Hand ihres Kammerfräulein und klammerte sich fest daran, so, als würde sie ihr Halt geben.
„R-Riho, ich - ...“
„Es ist in Ordnung, junge Herrin, Ihr müsst nichts sagen“, fiel ihr die junge Frau sanft ins Wort. „Seid unbesorgt, es wird alles wieder gut.“
Dann wandte sie sich Katsuya zu, der die beiden stumm beobachtet hatte.
„Gab es irgendwelche nennenswerte Zwischenfälle?“, verlangte sie in einem sichtlich abgekühlten Tonfall zu wissen.
Er schüttelte den Kopf.
„Nein, hier war alles ruhig.“
„Gut.“
Sie setzte sich wieder in Bewegung, wobei sie Yukiko vorsichtig mit sich zog. Dann deutete sie auf einen größeren Stein, der unter einem Baum aus dem Waldboden ragte.
„Junge Herrin, nehmt doch bitte noch einen Augenblick Platz. Es gibt einiges, über das wir sprechen müssten.“
Das Mädchen tat, worum es geheißen wurde, was Riho zufrieden zur Kenntnis nahm.
„Während Ihr geschlafen habt, junge Herrin, habe ich unsere Zeit dazu genutzt, um einen mir einen Überblick über die Umgebung zu verschaffen“, setzte sie dann zur Erklärung an. „Ich kann Euch zwar nicht sagen, wie viel Distanz letztendlich zwischen uns und dem Amemiya-Anwesen liegt, doch soweit ich beurteilen konnte, scheinen sie uns nicht gefolgt zu sein.“
Immerhin eine gute Nachricht. Selbst Yukiko wusste nur zu gut, dass es momentan keinen wirklich Sinn machen würde, die offene Konfrontation zu suchen.
„Abgesehen von Wald scheint es hier ohnehin nicht sonderlich viel zu geben; den Schildern nach zu urteilen ist die nächste größere Ortschaft knapp zehn Kilometer von uns aus entfernt.“
Was doch ein recht beachtlicher Fußmarsch war. Andererseits sollte sich Yukiko wahrlich keine Illusionen machen – egal, wohin auch immer sie nun gehen mochte, der Weg würde mit Sicherheit ein recht langer und beschwerlicher sein.
„Sollen wir dorthin gehen?“, fragte sie leise.
Riho neigte den Kopf.
„Nun, das ist hier wohl die Frage – unabhängig davon, was wir nun zu tun gedenken, wäre es durchaus notwendig, uns mit Ausrüstung und Vorräten einzudecken. Dagegen steht allerdings, dass wir zum einen kein Geld zur Verfügung haben und außerdem die Möglichkeit besteht, dort auf Soldaten der Amemiya oder ihrer Verbündeten zu treffen.“
„Aber welche Alternativen bleiben uns?“, meldete sich Katsuya zögerlich zu Wort. „Wir können nicht ewig in der Wildnis umherstreifen; früher oder später werden wir Hunger bekommen u-und die junge Herrin hat noch nicht einmal etwas Richtiges zum Anziehen!“
Riho musterte ihn kühl und seufzte.
„Wir sind in einem Wald, nahe eines Flusses – wenn man sich ein klein wenig auskennt, so sollte die Nahrungsbeschaffung nicht das größte Problem sein. Doch ich muss dir in dem Punkt, dass wir wahrlich nur sehr mangelhaft ausgerüstet sind, durchaus Recht geben. Besonders nachts kann es unter Umständen sehr kalt werden und wir wollen ja nicht, dass sich unsere Herrin Yukiko den Tod holt, oder?“
Daraufhin senkte Yukiko den Blick; ging es hier denn immer nur um sie? Und überhaupt, die wichtigste Frage war bisher noch nicht einmal angeschnitten worden:
„Was... tun wir nun eigentlich? Wohin sollen wir gehen?“, fragte sie tonlos. „Ich... Ich möchte gerne nach Hause...“
Riho bedachte ihre Herrin mit einem mitleidigen Blick, während Katsuya krampfhaft in eine andere Richtung schaute; gewiss hatten sie sich bereits über diese Angelegenheit unterhalten.
„Das wäre keine sonderlich weise Idee“, ergriff das Kammerfräulein schließlich das Wort. „Zumindest solange wir nicht sicher wissen, was hier nun eigentlich vor sich geht. Selbstverständlich möchte ich keine bösen Geister beschwören, doch die Amemiya könnten überall ihre Späher und Verbündeten haben – selbst in Eurem Anwesen. Momentan stehen sehr viele Gerüchte und Unsicherheiten im Raum... So Leid es mir auch tut, junge Herrin, wir sollten uns meiner Meinung nach vorerst von Eurer Familie fernhalten.“
Ein Teil von Yukiko wusste, dass Riho richtig lag, ihr Vorschlag vernünftig und achtsam war. Ein anderer, sehr lautstarker Teil sah dies jedoch anders. Gerade jetzt, da sie ihre Mutter verloren hatte, sehnte sie sich wirklich danach, ihren Vater zu sehen. Sie wollte mit ihm sprechen, ihn in ihrer Nähe haben, sicher sein, dass er ihr nicht auf noch genommen würde – streng genommen war er schließlich das letzte Mitglied ihrer nächsten Familien, das ihr nun noch geblieben war.
Sie sah Riho flehentlich an.
„Mein Vater... Ich muss es ihm doch sagen! E-Er muss erfahren, was geschehen ist... Bitte Riho, ich muss zu ihm!“
Die junge Frau erwiderte ihren Blick regungslos, ehe sie dann ihren Kopf senkte.
„Es tut mir Leid, junge Herrin. Ich verspreche Euch, dass wir Euch so bald wie möglich zu Eurem Herrn Vater bringen werden, aber nicht jetzt. Streng genommen wissen wir noch nicht einmal genau, wo er sich momentan aufhält oder ob er nicht auch -“
Sie unterbrach sich, als ihr bewusst wurde, was sie gerade dabei war zu sagen. Allerdings war es bereits zu spät, denn Yukiko begriff sehr schnell, was ihre Freundin nicht auszusprechen wagte.
„...Du denkst also, dass er auch tot sein könnte.“
Riho zuckte mit den Schultern.
„Je nachdem, wie weit der Arm der Amemiya reicht und welche Unterstützer sie an ihrer Seite haben, ist auch diese Möglichkeit bedauerlicherweise nicht vollkommen auszuschließen.“
Nein, daran wollte Yukiko noch nicht einmal denken! Sollte dem wahrlich so sein, dann würde das ihr endgültig den Rest geben.
„Was sollen wir dann tun?“
Ihre Stimme klang nun geradezu hysterisch.
„Wohin sollen wir gehen? Wir sind hier im Feindesland, doch egal, wo wir sind: Es gibt doch niemanden, dem wir wirklich vertrauen können, sie alle könnten unter einer Decke stecken! I-Ich weiß nicht mehr, was ich überhaupt noch denken soll...“
Rasch vergrub sie ihr Gesicht in ihrem Ärmel. Sie wollte nicht schon wieder weinen, doch ihre Verzweiflung, ihre Trauer, aber auch dieser brennende Hass in ihr drohten erneut die Oberhand zu gewinnen.
Zu ihrer Überraschung schaltete sich Katsuya, der sich bisher ziemlich herausgehalten hatte, ein.
„Wir sollten die Ayasaki-Familie um Hilfe bitten.“
Yukiko ließ ihren Arm sinken und sah zu ihren Bediensteten. Wie immer wich er ihrem Blick aus, doch der Ausdruck in seinem Gesicht verriet ihr, dass er über seinen Vorschlag lange und gründlich nachgedacht hatte.
Riho verschränkte ihre Arme und blickte nachdenklich drein.
„Ayasaki... Ja, das wäre durchaus denkbar – von allen Verbündeten des Asatsuyu-Klans sind sie die einzigen, die uns gewiss nicht verraten würden. Dafür sind sie uns viel zu viel schuldig.“
In der Tat. Yukiko kannte zwar keine Einzelheiten, doch soweit sie wusste hatte ihr Großvater, Asatsuyu no Teruo, die Ayasaki-Familie davor bewahrt, in vollkommene Ungnade zu fallen – in den Augen der meisten Klans war eine Entehrung des Familiennamen die schlimmste Strafe überhaupt. Dies hatte zwar nicht verhindern können, dass sie einen Großteil ihres damaligen Besitzes und Einflusses verloren haben, doch ihr Schicksal hätte ein viel schlimmeres sein können.
Sicher wusste Yukiko nur, dass die Ayasaki ihrer Familie die Loyalität zugesichert hatten.
Andererseits hatte Sakuya Tomoe auch für eine Freundin gehalten.
„Können wir uns wirklich sicher sein?“, fragte sie abwesend.
„Im Leben gibt es keine Sicherheiten“, entgegnete Riho. „Aber der Ayasaki-Klan hat Eurer Familie die Treue geschworen; ein Bruch dieses Versprechens würde einen unwiderruflichen Gesichtsverlust führen und ich kann mir kaum vorstellen, dass sie das riskieren möchten.“
So ungern sie es auch zugab: Yukiko wusste keine bessere Alternative. Keiner der anderen Verbündeten ihres Klans war auf diese Weise an ihn gebunden. Wenn es also jemanden gab, der Yukiko und ihren Begleitern helfen konnte, dann sie.
„Sie leben in Senrei, nicht wahr?“, murmelte sie.
Das war die östlichste der Provinzen. Sie lag direkt am Meer und beherbergte die größten Seehäfen des Landes. Zum Glück grenzte sie an Hisagi an.
„Es ist durchaus ein recht weiter Marsch“, sagte Katsuya wie zur Bestätigung. „Aber durchaus erreichbar.“
„Wir sollten uns lediglich von den Hauptstraßen fernhalten“, warf Riho ein. „Hisagi steht immerhin unter der Kontrolle der Amemiya-Familie; wenn sie es noch nicht getan haben, so werden sie früher oder später gewiss nach uns fahnden lassen. Es ist daher essentiell, dass wir höchste Vorsicht walten lassen.“
Yukiko erwiderte nichts darauf; ihre Gedanken waren längst wieder abgedriftet, befanden sich nun erneut in dieser schicksalhaften Nacht, die ihr Leben auf ewig prägen sollte.