Sie sah sich zwischen den Gebäuden um. Es war wie so oft in den Großstädten mit den Kränen: Sie waren auch am Tag nicht alle im Einsatz. Da hinten war einer, der nicht in Benutzung zu sein schien, auf einer Baustelle, die offenbar im Moment leer stand.
Sie hielt darauf zu, nahm kurz vor dem Zaun anlauf und sprang hinüber. Dankbarerweise sollte sie Recht behalten. Es war leer. Niemand hielt sich hier auf.
Von der Tür unten am Kran ließ sie sich nicht aufhalten. Ihre Kräfte reichten, dass sie hoch genug springen konnte, um sich zwischen den Metallstreben hindurch zu winden und so zur Leiter zu kommen, wie sie es auch an dem Tag ihrer Flucht getan hatte. So kletterte sie empor. Es war auch mit Prothese nicht leicht, doch war der Gedanke ihrer Rache Motivation genug, um sie ohne große Pause hinaufklettern zu lassen, ehe sie die kleine Plattform bei der Kabine zu erreichen. Letztere war natürlich abgeschlossen, für Pakhet jedoch unwichtig. Stattdessen stand sie auf der Plattform, sah sich um und versuchte sich zu orientieren.
Dahinten war der Fluss. Sie konnte sich erinnern, dass sie ihn vom Gebäude aus gesehen hatte, als sie geflohen war. Wahrscheinlich war es leichter, sich zu orientieren, wenn es dunkel war, da sie die Gegend bisher im Dunkeln kannte. So wäre es vielleicht einfacher gewesen, das richtige Stück Skyline zu erkennen. Leider war es mitten am Tag und sie musste sich versuchen anders zurecht zu finden.
Also versuchte sie sich weitere Details in Erinnerung zu rufen, auch wenn es ihr Herz schmerzhaft rasen ließ.
Ein scharfer Wind wehte in ihr Gesicht, während ihr Blick über die Häuserdächer wanderte.
Das Gebäude, auf dem sie gewesen war bei ihrer Flucht war eins von einer Reihe identischer Gebäude gewesen. Wie viele waren es gewesen? Vier? Nein, es mussten fünf gewesen sein. Es war das vorletzte gewesen – nun, oder das zweite, je nachdem aus welcher Richtung man zählte. Und der Kran war – was? – acht bis zehn Meter entfernt gewesen. Also. Wo?
Ihr Blick wanderte weiter über die Dächer, ehe sie einen Kran und eine Häuserreihe entdeckte. Zwei Blocks von dort entfernt, wo sie Tenzien getroffen hatte. Sie hatte Recht gehabt. Man hatte sie nicht weit fort gebracht. Es wäre wahrscheinlich zu auffällig gewesen. Dann hatte sie zwei mögliche Aufenthaltsorte, wo Li sein konnte.
Jedenfalls wusste sie, dass jemand Lis kleine Folterkammer genau für diesen Zweck angepasst hatte. Da waren die Haken in Wänden und Boden gewesen und die Tür, da war sie sich recht sicher, war dicker gewesen. Vielleicht waren die Wände auch gegen Lärm isoliert gewesen. Ihr war es jedenfalls darin leiser vorgekommen und es machte Sinn, dass man verhindern wollte, dass Schreie zu weit zu hören waren. Sicher, oft waren organisierte Gruppen wie die Triaden auf ihrem eigenen Turf nicht zurückhaltend, doch waren Mord und Folter nichts, womit man allgemein hausieren kann. Auch nicht, wenn es zur Abschreckung geschah. Immerhin waren die Chancen ab einem gewissen Punkt zu groß, dass ein abbezahlter Polizist trotz allem sein Gewissen entdeckte.
Die Frage war, was sie nun machen sollte. Ohne zu wissen, ob Li wirklich da war, blieb ihr wenig übrig, als zu warten.
Durch die Nähe wäre es wenigstens möglich einen guten Ausguck zu finden. Ein Gebäude genau in der Mitte zwischen ihren beiden bekannten Punkten.
Sie nahm einen tiefen Atemzug, dann kletterte sie wieder hinab, sprang auf halber Höhe zu einem der anliegenden Dächer ab. Eigentlich waren die Schluchten zwischen einigen dieser Häuser zu breit, doch sie musste es schaffen. Sie wollte nicht in eins der Gebäude hinein, wenn es sich vermeiden ließ. Nicht bis sie mehr wusste.
Also nahm sie Anlauf, sprang und knallte unsanft gegen die Häuserwand auf der anderen Seite der Straße. Dennoch bekam sie die Kante des Flachdachs zu fassen und zog sich hinauf.
Ach, verdammt. Sie konnte nicht mehr tun, als zu warten.
Und so wartete sie …
Es war eine andere Sache, die man beim Militär lernte. Herumzustehen – oder zu sitzen – ohne etwas zu tun. Stunden um Stunden konnten damit verbracht werden. Es brauchte Gewöhnung, Training, vor allem um nicht in Gedanken zu versinken und am Ende Löcher in die Luft zu starren.
Zugegebenermaßen war es an diesem Tag schwerer. Denn immer wieder drohten diese Erinnerungen zurück in ihre Gedanken zu klettern, während sie auf dem Dach des Gebäudes hin und her lief. Sie musste beide Seiten im Auge behalten.
Da waren diese Erinnerungen und immer wieder dieselbe innere Stimme, dass es sinnlos war, dass sie sich unnötig in Gefahr begab.
Doch sie blieb hier, wartete. Sie musste einfach Li finden. Ohne Michaels Hilfe. Sie würde ihn finden. Und dann …
Sie ging erneut zur anderen Seite.
In der Tiefe gingen unterschiedliche Menschen entlang. Leute, die von der Arbeit kamen. Familien mit Kindern. Kinder ohne Familien, die von Schule, Nachhilfe, AGs oder Freunden kamen. Es war eine normale Wohngegend. Insofern war es wohl nicht überraschend. Dennoch kam ihr der Gedanke gruselig vor.
Was machte sie, wenn sie Li nicht fand? Immerhin wusste sie nicht, wie oft er hierher kam. Einmal ganz davon zu schweigen, dass sie sich selbst in Gefahr begab, je länger sie sich hier aufhielt. Sicher, sie war recht weit oben und die wenigsten Menschen sahen zum Himmel empor.
Dennoch konnte sie jemand entdecken, vor allem, wenn sie bedachte, dass Li magisch war. Vielleicht gab es irgendwo Geister, die die Gegend für ihn bewachten. Oder einfache Schutzzauber, Alarmzauber, irgendetwas der Art …
Arm und Prothese vor der Brust verschränkt ging sie wieder zur anderen Seite. Mehr Menschen in der Tiefe.
Konnte sie von hier oben Li überhaupt erkennen? Immerhin konnte sie nicht von sich sagen, dass sie wesentlich besser als andere Amerikaner darin war, chinesische Gesichtszüge zu unterscheiden. Es war albern und sicher auch irgendwie rassistisch, aber dennoch tat sie sich schwer. Vor allem aus der Höhe. Sicher, ihr magisches Auge wirkte wie ein einfaches Fernglas und ab und an hob sie ein tatsächliches Fernglas an die Augen, doch half die Perspektive von hier oben nicht, um Menschen zu erkennen.
Scheiße. Vielleicht war es wirklich hoffnungslos. Vielleicht war es doch klüger nach Südafrika zurückzufliegen. Dann aber wiederum … sie würde es sich nie verzeihen, würde ewig über ihre eigene Schulter schauen.
Nein. Li musste sterben.
Als sie umdrehte und zur anderen Seite – der Seite des Casinos – ging, hielt sie auf einmal inne. Sie zog das Fernglas hervor und schaute in die Tiefe. Ihr Herz machte einen kurzen Aussetzer.
Das konnte nicht sein.
Doch da unten lief eine Frau, die Pakhet sehr bekannt vorkam. Ja, die kokette Art, das lange, wallende Haar. Das war das Weib, das Lis Leibwächterin gemiemt hatte. Das Weib, das sie mit Begeisterung mitgefoltert hatte. Das Weib, das Pakhet eigentlich getötet hatte. Jedenfalls war sie sich sehr sicher, dass die Frau tot gewesen war, als sie sie dort zurückgelassen hatte.
Wie konnte das sein?
Dann wiederum … sie war kaum bei Bewusstsein gewesen. Hatte sie den Puls gefühlt? Nein. Es war nicht ihre Priorität gewesen. Vielleicht hatte die Frau überlebt. Vielleicht hatte man sie magisch geheilt. Genau so wie Pakhet magisch geheilt worden war.
Sollte sie ihr folgen? Sie schien mit Li vertraut gewesen sein. Wenn Pakhet sie allein erwischte … Wenn sie nicht gefesselt war, sollte sie es mit dieser Frau locker aufnehmen können. Sie war vielleicht auch irgendwie magisch, war vielleicht auch trainiert, aber sie hatte nicht Pakhets Erfahrung – und nicht ihre Wut.
Es war vielleicht eine bessere Methode, als auf Li zu warten.
Kurz zögerte Pakhet, während die Frau sich zu einem Wagen hinüber bewegte. Sie war wirklich allein. Keine weiteren Wachen.
Verflucht. Die Chance war zu gut, wenn es nicht eine Falle war. Pakhet konnte sich es einfach nicht entgehen lassen. Genau dafür hatte sie einen Zauber mitgenommen.
Sie holte das einfache Glasplättchen aus ihrer Tasche. Jetzt kam der unangenehme Teil. Der Teil an dem sie einem vollkommen fremden Magier vertrauen musste. Aber verdammt … sie wollte sich die Chance nicht entgehen lassen.
Also sprang sie in der Gasse zwischen diesem und dem nächsten Gebäude hinab. Zwei Mal fing sie sich ab, ehe sie das Plättchen zerbrach und von einem Windstoß abgefangen wurde. Mit zitternden Beinen landete sie in der schmalen Gasse, fing sich aber, um hinaus auf die Straße zu eilen.
Wo war das Weib?
Ein startender Motor zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Es war ein rotes Auto und als sie sich auf die leicht getönten Fenster konzentrierte konnte sie einen kurzen Blick auf die Frau erhaschen.
Praktisch. Roter Wagen. Davon würde es nicht so viele geben. Zumal es ein besserer Wagen war. Schwerer zu verlieren.
Pakhet rannte. Sie sprang in den eigenen Leihwagen und startete den Motor. Wenigstens war sie in Shanghai, wo sie sich nicht umgewöhnen musste. Die Wagen fuhren hier weiterhin links, anders als im Rest von China. So brauchte es nicht viel Umdenken für sie. Besser, denn sie musste sich darauf konzentrieren das Weib und ihren Wagen im Auge zu behalten.
Wohin war die Frau gerade unterwegs? Würde sie sie zu Lin führen?
Wahrscheinlich nicht. Doch das musste sie auch nicht. Es reichte, wenn Pakhet die Frau allein abfangen konnte. Dann würde sie die Information schon aus ihr herausbekommen. Und am Ende würde sie sichergehen, dass auch die Frau tot war. Sie hatte es verdient. Verflucht. Sie hätte sie wirklich beinahe umgebracht. Am Ende hatte sie mindestens genau so viel Spaß an der Sache gehabt wie Li und die Männer.