Wie sie gesagt hatte, stand Pakhet auf, ging zu der Schiebetür hinüber, die auf einen für hiesige Verhältnisse relativ länglichen, wenngleich sehr schmalen Balkon führte. Sie rauchte nicht, weshalb es hier wenig für sie zu tun gab.
Also lehnte sie sich über die Balustrade und atmete die Nachtluft ein – selbst wenn diese nicht weniger rauchig roch, als die im Zimmer. Die Berichte über die Luft hier in der Stadt waren echt nicht übertrieben. Wie hielten die Menschen es hier nur aus? So viele. So eng. Es war gruselig. Ihr war es gruselig.
Sie würde froh sein, wenn sie morgen im Flugzeug nach Kapstadt saß. Dort waren die Menschen zumindest auf mehr Fläche verteilt. Es war angenehmer. Nicht so stickig. Nicht so …
Die Tür hinter ihr wurde erneut aufgeschoben. Jemand trat hinter sie.
Es war Li in Begleitung der Dame, die auch zuvor schon an seiner Seite gehangen war. War sie einfach nur seine Kurtisane oder ein Bodygard? Es war schwer zu sagen. Dem aufmerksamen Blick nach tippte Pakhet fast auf zweiteres, selbst wenn die Kleidung eher auf das erste tippte.
„Was war noch gleich ihr Name?“, fragte Li.
Pakhet wandte sich um, lehnte sich nun rücklings an die Ballustrade. „Ilsa Kirby“, antwortete sie.
Er schenkte ihr ein gewinnendes und sicher hundertfach trainiertes Lächeln. „Und was bringt sie nach Shanghai?“
„Geschäftliches, fürchte ich“, erwiderte sie. Am leichtesten log man, indem man nahe an der Wahrheit blieb.
„Ach ja?“
„Ja. Ich arbeite für ein Aktienunternehmen.“
„Oh. Ich hätte sie nicht für eine Börsenarbeiterin gehalten.“
Sie zuckte mit den Schultern. „Sie wissen, wie das ist, oder? Es ist die legalste Form des Glücksspiels.“ Damit bemühte auch sie sich wieder um ihr Lächeln. Etwas an seiner Körperhaltung kam ihr seltsam vor.
Jetzt war sie mit ihm allein. Sie konnte es nutzen. Sie konnte das ganze hinter sich bringen. Wenn die Frau ihr nicht in den Weg kam. Es durfte niemand mitbekommen, was sie hier tat. Immerhin wollte sie keinen Sprung aus dem zehnten Stock riskieren.
„Ich verstehe schon“, erwiderte er. „Woher kennen sie Mr Han?“
„Habe ihn in New York kennengelernt.“ Besser sie drehte das Blatt bald um. „Wir hatten uns vorher verabredet. Er meinte er kannte einen guten Ort zum Spielen.“
„Meinte er das?“
Pakhet deutete ein weiteres Schulterzucken an. Ein Instinkt sagte ihr, sie sollte vor Li zurückweichen, doch sie widerstand dem Drang. „Ich habe schon mitbekommen, dass es nicht im Sinne der hiesigen Regeln war.“
„Allerdings nicht.“
„Ich hoffe, Sie können ihm verzeihen.“
„Das werden wir sehen“, erwiderte Li. Nun trat er näher an sie heran. „Woher haben Sie den Zauber?“
„Zauber?“, fragte sie und bemühte sich zu klingen, wie ein normaler Mensch, der nicht verstand. So, wie sie noch vor zwei Jahren geklungen hatte.
„Der Zauber auf Ihrem Arm. Der Ihre Prothese verbirgt.“
Damit hatte Pakhet nicht gerechnet. Er hatte den Zauber durchschaut? Aber das hieß …
„Ich nehme nicht an, dass Sie den Arm durch einen Papierschnitt verloren haben, oder?“
„Nein, tatsächlich nicht.“ Sie durfte sich nicht aus dem Konzept bringen lassen, drückte die Prothese näher an den Körper. „Ich rede nicht gerne darüber.“
„Was für einen Grund haben Sie, ihn magisch zu verbergen?“
„Wie gesagt, ich rede nicht gerne darüber. Die Menschen stellen Fragen, und …“
Li griff nach der Hand ihrer Prothese und hielt sie fest. Sein Blick suchte den ihren. Er schaute ihr direkt in die Augen, einen kalten Blick in den eigenen.
Langsam brannten sich gleich zwei Erkenntnisse in ihren Geist: Er war Magier. Und er wusste, warum sie hier war. Verdammt.
Sie konzentrierte ihre Energie, bewegte sich schneller, als es normalen Menschen möglich war, griff in ihre Handtasche, um die Spritze herauszuholen, doch seine Begleitung hatte ihre Hand gegriffen.
Pakhet leitete mehr Energie in die Hand, schaffte es sich dem Griff der Frau zu entwinden. Mit der Spritze in der Hand versuchte sie, Lis Bein zu treffen. Er hatte es nicht ordentlich geschützt. Aber auch Li war nicht langsam. Jetzt packte er die Hand ebenfalls, drückte sie gegen die Balustrade. Seine Augen funkelten.
„Wer hat dich geschickt?“
Statt zu Antworten zog die das Bein nach oben, traf ihn zwischen den Beinen, ließ ihn kurz schwanken. Genug um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen.
Mit gesammelter Energie warf sie ihn um. Tatsächlich landete er auf dem Rücken. Schon wollte sie mit der Spritze nachsetzen – wohl wissend, jetzt Aufmerksamkeit auf sich gezogen zu haben. Erneut war jedoch seine Begleitung vor ihr. Sie positionierte sich vor ihrem Boss, wehrte erneut Pakhets Angriff ab, versuchte ihre Beine unter ihr wegzufegen.
Zumindest letzteres hatte Pakhet kommen sehen, schaffte es rechtzeitig zurückzuschreiten.
Das lief alles nicht so, wie gedacht.
Noch einmal sammelte sie Energie, im Versuch sich loszureißen, entwand ihre Hand dem Griff der anderen Frau, bekam deren Kleid zu fassen und warf sie gegen das Fenster. Dann warf sie sich auf Li, der versuchte sich auf die Beine zu kämpfen.
Sie musste ihn nur kurz überwältigen, dann konnte sie entkommen.
Dieses Mal versuchte sie seinen Hals zu erwischen, doch auch er hatte Kämpfen gelernt. Er brachte seine Beine vor sich, machte es damit schwerer, ihn zu erreichen.
Nein, so einfach würde sie sich nicht abwehren lassen. Selbst wenn der linke Arm zu wenig zu gebrauchen war, konnte sie ihn damit etwas ablenken. Sie brachte den Arm vor sich, um seine Hände abzuwehren, versuchte derweil ihn erneut mit der Spritze zu treffen.
Ein Schuss erklang. Genau so wie Stimmengewirr.
Sie musste hier weg. Aber vorher musste sie den Job zu Ende bringen. Sie konnte sich keinen weiteren Ärger erlauben.
Einmal noch schlug sie aus, als Li ihren Arm zu greifen bekam. Er rief etwas auf Mandarin, etwas, das seltsam in ihrem Kopf nachhallte.
Magie.
Verdammt.
Das war ihr letzter Gedanke.