Viel bekam Pakhet nicht mit. Sie merkte, wie die beiden, die gekommen waren, sie aufhoben, stützten und auf eine Liege brachte. Zumindest das sprach gegen die Triaden. Sie wurde zu einem Wagen gebracht und für eine Weile verschwand die Welt wieder in Schwarz. Als sie das nächste Mal zu sich kam, waren die Schmerzen leicht gedämpft. Wahrscheinlich hatte man ihr etwas gegeben. Ordentlich konnte sie jedoch weiterhin nicht sehen. So blieb sie einfach liegen. Rührte sich nicht. Auch nicht, als man die Liege bewegte. Sie hatte nicht einmal gesehen, wie die, die sie geholt hatten, aussahen.
Wasser plätscherte. Sie wusste nicht, was passierte, während man die Liege fuhr. Dann nahm sie jemand runter. Zwei. Sie trugen sie. Ließen sie in Wasser sinken. Würden sie sie ertränken? Es war egal. Sie konnte nichts mehr tun. Sie konnte nicht.
Sie fiel. Es war schwarz. Alles war schwarz. Sie spürte ihren Körper nicht einmal mehr.
Wie lange es so ging, konnte sie nicht genau sagen. Es rauschte, es plätscherte. Da war mehr Wasser. Mehr und mehr Wasser.
Irgendwann erklang eine Stimme. Eine Stimme, die sie zu umgeben schien. „Ein Mensch?“
Die Stimme war tief, respekteinflößend. Ein leichtes Knurren klang in ihr mit. Dennoch war es schwer zu sagen, ob sie männlich oder weiblich war.
„Du stirbst“, stellte die Stimme fest.
Als ob sie das nicht selbst wüsste!
„Das ist, warum man dich hergebracht hat“, meinte die Stimme.
Dann war das der Heiler?
„Ich denke von mir selbst nicht als ein Heiler. Aber ja. Man hat dich hergebracht, um geheilt zu werden.“
Was auch immer es war, konnte ihre Gedanken lesen.
„Ich spreche direkt in deinen Geist“, erklärte die Stimme.
Das erklärte einiges. Zumindest nahm es ihr die zusätzliche Belastung zu sprechen ab.
„Ich kann dein Leben retten“, fuhr die Stimme fort. „Aber du weißt, dass es einen Preis hat.“
Natürlich wusste sie das.
„Was ist es, das du genau willst?“
Pakhet sammelte ihre Gedanken. Versuchte klar zu denken: „Ich will, dass du die Wunden aus den letzten drei Tagen heilst, sie komplett verschwinden lässt. Keine Narben. Nichts. Ich will daran nicht länger erinnert werden.“
„Das ist nicht wenig“, stellte die Stimme fest.
„Ich weiß.“
„Der Preis wäre entsprechend. Zwei große Gefallen.“
Große Gefallen. Das bedeutete Aufträge für magische Geschöpfe, die ziemlich sicher lebensgefährlich waren.
„Man hat dich also aufgeklärt.“
„Ja“, dachte sie.
„Ja?“
„Ja. Ich bin mit dem Preis einverstanden. Zwei große Gefallen für eine vollständige Heilung.“
„In Ordnung“, erwiderte die Stimme.
Wind rauschte. Ein seltsamer Wind, der Regen mit sich brachte oder zumindest danach roch. Er war kalt, aber nicht kühl. Er umgab ihren Körper. Jedenfalls war das das letzte, was sie spürte, ehe die Sinne ihr schwanden. Ob durch einen Zauber oder aus Schwäche vermochte sie nicht mehr zu sagen.
Als Pakhet zu sich kam, war sie nackt. Sie lag auf einem weichen, jedoch feuchten Untergrund. Moos.
Sie blinzelte. Ihre Sicht war wieder frei. Sie konnte sehen. Sie konnte sich auch bewegen, sich aufsetzen, ohne dass es schmerzte.
Richtig. Sie war wirklich zu einem Heiler gebracht worden. Ein Glück. Das hieß wohl, dass dieser Ort das Territorium des Heilers war? Ein Geist? Nein. Das hier sah nach Anderswelt aus. Ein Fae.
Tatsächlich war ihr Lager ein länglicher, moosüberzogener Fels gewesen, der zwischen sechs Pfeilern stand. Diese Pfeiler hielten – wie auch immer – Wasser über ihnen, hielten es davon ab auf die Felsen zu tropfen.
Die Pfeiler waren mit bunten Farben und Zeichnungen verziert. Es erinnerte an irgendein Heiligtum oder so etwas. Allerdings hatte sich Moos auch über die Pfeiler gezogen.
Nur den Heiler konnte Pakhet nicht sehen.
Was hätte sie für Kleidung getan? Doch ihre Kleidung war nicht hier. Nun, die Kleidung, die sie von dem Typen geklaut hatte, war ohnehin hinüber. Dennoch. Sie mochte das Gefühl der Nacktheit nicht. Sie hatte es nie gemocht, aber nach den letzten Tagen war es noch schlimmer.
Sie lenkte sich ab, in dem sie ihre Beine begutachtete. Dort, wo die Schnitte gewesen waren, war keine Spur zu sehen. Keine Rötung. Keine Narbe. Dasselbe galt für die Stellen, an denen sie die Zigaretten ausgedrückt hatten.
Vorsichtig tastete sie zwischen ihre Beine, zuckte unter ihrer eigenen Bewegung zusammen. Erinnerungen. Da waren die Erinnerungen. Nein. Nicht jetzt. Nicht jetzt …
Sie hatte auch dort aufgehört zu bluten. Auch der Schmerz in ihrem Inneren war verschwunden. Sie war wirklich geheilt.
Seufzend blieb sie sitzen, zog die Beine an, um ihren Körper vor möglichen Blicken zu schützen. Ja. Die Fae dachten nicht so über nackte Körper, aber dennoch fühlte sie sich so etwas besser. Wie kam sie jetzt in die reale Welt zurück? In die physische Welt?
Sie legte die Stirn gegen die Knie.
Ihr Magen knurrte. Sie spürte den Hunger. Es war kaum verwunderlich. Immerhin hatte sie so wenig gegessen und eine Heilung nahm auch einige Energie vom Geheilten.
Also. Wo konnte sie etwas zu Essen bekommen?
Wahrscheinlich musste sie auf den Heiler warten. Also wartete sie.
Sie hatte überlebt. Der Gedanke breitete sich in ihrem Inneren auf. Sie hatte überlebt. Sie hatte irgendwie überlebt. Sie würde nicht sterben. Ein Glück. Sie hatte wirklich nicht so sterben wollen.
Diese Arschlöcher. Warum hatten sie ihr das angetan? Das war mehr gewesen, als sie je befürchtet hatte. Es wäre verständlich gewesen, hätte er ihr das Gift gespritzt, das für ihn bestimmt war. Doch nicht das. Nichts davon.
Sie hatte solche Angst gehabt.
Wieder kämpfte die gegen Tränen. Nein. Sie würde nicht weinen. Sie weinte nicht. Sie war niemand, der so die eigene Schwäche zeigte. Sie war stärker als das. Sie weinte nicht. Sie hatte seit fünfzehn Jahren nicht mehr geweint.
Also atmete sie bewusst ein und aus, bemühte sich um Entspannung, bis sie etwas hörte.
Da bewegte sich etwas im Wasser.
Sie sah auf, sah in das endlose Wasser, dass den Platz zwischen den Pfeilern in alle Richtungen zu umgeben schien. Da war ein längliches Wesen, das durch das Gewässer schwamm. Ein längliches Wesen, dass hierher kam.
Erst einen Moment, bevor der Kopf das Wasser durchbrach, erkannte Pakhet, was es war: Ein Drache. Ein langer, bläulich schimmernder Drache.
Sie musste sich beherrschen nicht von ihm zurückzuschrecken.
Er musterte sie. Seine Augen waren so groß, wie ihr ganzer Schädel. Sie glommen in Jade, als würde ein Feuer sie ausfüllen. Wie chinesische Drachen auf den Zeichnungen, die sie gesehen hatte, hingen Haare von seinen Hüstern hinab. Ein seltsamer Bart. Doch diese Haare streckten sich nun nach ihr aus.
Sollte sie davor zurückweichen? Sie blieb sitzen. Wenn der Drache sie hätte töten wollen, hätte er es lange getan.
Und so berührten die Haare ihre Stirn, ehe einen Moment später wieder die Stimme erklang. „Ich sehe, du bist wach.“
Das war also, wie der Drache kommunizierte.
„Jedenfalls, wenn es mit einem Fremdländer ist.“
„Ich … verstehe.“
„Gut. Dann bist du nicht schwer von Begriff.“ Die Augen des Drachen ruhten auf ihr.
„Nein. Bin ich nicht.“ Offenbar musste sie nicht sprechen, damit er sie verstand.
„Natürlich nicht.“
„Warum bin ich noch hier?“
„Weil ich dir die Ruhe gönnen wollte und sicher stellen musste, dass du dich noch an unsere Abmachung erinnerst.“
Pakhet atmete tief aus. „Ja. Zwei große Gefallen.“
„Richtig. Dann verstehen wir uns.“ Die Lippen des Drachen verformten sich zu der Karikatur eines Lächelns, das zu viele spitze Zähne zeigte.
„Ja. Ich halte mein Wort. Ist einer der Gefallen jetzt fällig?“
„Nein. Noch nicht. Ich werde dich bei Zeiten kontaktieren.“
„Heißt es, dass ich in die physische Wert zurückkehren kann.“
„Kannst du?“ Der Drache grinste.
„Ich kann nicht selbst du Ebene wechseln“, erwiderte sie in Gedanken.
„Ja. Ich weiß.“
„Dann?“
„Ich habe noch ein Angebot zu machen.“
„Ein Angebot?“ Das war nie ein gutes Thema, wenn es von einem Fae aufgebracht wurde.
„Kein Grund so misstrauisch zu sein.“ Der Drache ließ seinen Kopf ein wenig sinken, um nicht über ihr zu schweben. „Mir ist nur der Umstand mit deinem Arm aufgefallen, Menschlein. Du hast einiges verloren.“
Es war klar, worauf es hinauslaufen würde.
„Ich könnte deinen Arm wiederherstellen. Deinen Arm und das Auge. Für fünf Jahre Dienerschaft jeweils.“
Ja, genau das war der Grund, warum sie es nie hatte machen lassen, seit sie von Magie wusste. „Ich habe andere Verpflichtungen.“
„Für diesen Mann arbeiten, den du so verachtest?“
„Er ist ein notwendiges Übel“, erwiderte sie. „Deswegen muss ich dein großzügiges Angebot ausschlagen. Im Moment kann ich es mir nicht erlauben.“
„Zu Schade“, meinte die Stimme des Drachen in ihrem Kopf. Er hauchte sie an. Es war sein Atem, der nach Regen roch.
„Kannst du mich in die physische Welt zurückschicken?“
„Ich habe wohl keine Wahl, hmm?“ Sein Blick wanderte zu einer Wasserfläche zwischen zwei der Pfeiler hinüber. Licht reflektierte sich in ihr, stärker. Es glitzerte, bis sie zu einer spiegelnden Fläche wurde. „Du wirst im Gemach von einer meiner Dienerinnen erscheinen“, erklärte der Drache. „Sie wird dir helfen.“
„Für weitere Schulden?“
Ein Lachen klang durch ihren Kopf. „Nein. Meine Diener sind im Preis einbegriffen. Außerdem glaube ich, sie haben sich bereits monetär zahlen lassen.“
Pakhet nickte. Sie zögerte, stand dann aber auf. Wie war es noch gleich? Sie verbeugte sich, auch wenn sie nicht sicher war, ob das in China richtige Etikette war. „Ich danke Euch dafür, mein Leben gerettet zu haben.“
„Wir werden voneinander hören.“
Pakhet atmete tief durch, ehe sie zur Spiegelwand hinüberging. Es war gruselig sich selbst so zu sehen. Nackt. Doch zumindest waren offenbar keine Narben an ihrem Körper geblieben. Und so schloss sie die Augen und trat durch das Wasser hindurch, nur um mit dem Fuß einen Moment später auf eine Holzfläche zu treten.