Michael rief sie beinahe genau zwei Stunden später zurück – wie versprochen. Wieder wirkte er herablassend, aber sie hatte kaum eine Wahl, als auf ihn zu hören.
„Ich habe einen Namen“, erklärte er.
Pakhet saß in Weiwens kleinen Wagen und sah aus dem Fenster, während sie sich im Schritttempo die Straße entlang bewegten. Zu Fuß laufen wäre wahrscheinlich schneller gewesen. „Ja?“
„Du willst dich um neun mit einem Herrn Bei Zhao treffen. Im Starbucks am Hong Qiao.“
Bei Zhao. Pakhet merkte sich den Namen, da sie nichts zum Schreiben hatte. „In einem Starbucks?“
„Ja“, erwiderte Michael. „Er war spezifisch.“
„Wer ist er?“
„Dein Auftraggeber“, antwortete Michael. „Er wird dich mit mehr Heroin versorgen.“
Pakhet schürzte die Lippen. Das gefiel ihr nicht. „Moment, du hast ihm gesagt, dass ich gefangen genommen wurde und jetzt will er sich mit mir treffen?“
„Ja.“
Entweder war ihr Auftraggeber besonders dumm oder selbst darauf aus sie für ihr Versagen zu bestrafen. Verdammt. Wahrscheinlich war es leichter für sie einfacher, wenn sie Li einfach erschoss. Alles was sie wollte, war ihn sterben zu sehen. Sie musste ihren Auftrag nicht erfüllen.
„Jojo?“, fragte Michael.
Sie hasste es. Wenn er sie nannte … Er tat es nur, um sie daran zu erinnern, dass da noch immer irgendwo Joanne Snyder war. Ihr altes Ego. Ihr totes Ego. „Ich werde da sein“, murmelte sie daher nur und legte auf.
Leise seufzte sie.
Weiwen warf ihr einen Blick zu. „Was ist?“
„Ich habe nachher einen Termin an der Hong Qiao Station.“
„Verstehe. Soll ich Sie dahinbringen?“
„Erst um 9“, antwortete Pakhet, auch wenn sie sich fragte, wie viel Zeit sie bei der Straßenlage einplanen musste. Deswegen war sie in Großstädten lieber mit dem Motorrad unterwegs. Doch würde sie sich auf einem Motorrad aktuell nicht wirklich sicher fühlen. Die ganze Zeit rechnete sie damit, dass jemand sie erschoss.
Soweit aber nichts. Natürlich nicht. In einer riesigen Stadt müssten die Zufälle schon gegen sie passieren, damit jemand sie entdeckte. Sie war nur paranoid.
Pakhet hasste es. Es war nachvollziehbar und an sich vollkommen normal, dass das Erlebte sie mitgenommen hatte. Sie wäre beinahe gestorben. Sie war gefoltert worden. Natürlich war es normal, dass sie psychisch nicht ganz beieinander war. Sie würde brauchen, um sich davon zu erholen. Immerhin hatte sie mit Traumata ihre Erfahrungen gemacht.
Es half nur nicht. Die ganzen Gedanken, Ängste, das Rasen ihres Herzens machten es nicht leichter, ihren Plan zu Ende zu denken. Denn soweit scheiterte dieser vor allem an einer Sache: Sie wusste nicht, wie sie Li finden sollte. Aufgrund ihrer Verletzungen hatte sie sich nicht wirklich konzentrieren können, als sie geflohen war. Sie wusste nicht genau, von wo sie gekommen war. Noch einmal das Kasino zu versuchen, war töricht. Aber die Stadt war zu groß, um anders zu hoffen, dass sie Li finden konnte.
Sie würde es nicht noch einmal so probieren, wie zuvor. Nicht noch einmal subtil versuchen, sich einzuschleichen. Sie kannten ihr Gesicht. Das hatte keinen Sinn. Entsprechend würde es darauf hinauslaufen, es mit roher Gewalt anzugehen. Wenn sie einmal wusste, wo er war, konnte sie sich auf die Lauer legen, ihn abpassen. Dafür brauchte sie nur ein paar andere Vorbereitungen. Einen Unsichtbarkeitszauber zum Beispiel. Und etwas, dass sie vor Verletzungen schützte. Zumindest etwas. Außerdem eben das Gift. Denn während sie keine Hemmungen hatte, sämtliche Handlanger zu erschießen … Ach, verflucht, ihr Stolz verlangte, dass sie es richtig machte.
Aber all ihre Pläne scheiterten soweit noch daran, ihn zu finden. Leider hatte sie kein Blut von ihm. Kein Haar. Nichts, dass sich für einen Aufspürzauber eignete. Dinge, die er von ihr hatte … Aber Weiwen hatte gesagt, sie wäre hier sicher.
Sie musste einen Weg finden, Li möglichst schnell zu finden und zu töten. Sie musste sich etwas ausdenken. Nur was?
Im Notfall musste sie das Casino beobachten. Warten, dass er sich zeigte. Und dann zuschlagen. Da waren die ganzen Kräne gewesen. Die Wohnung, in der sie gefoltert worden war, war daher wahrscheinlich nicht zu weit weg gewesen.
Vielleicht war dort sein Hideout. Vielleicht war es auch so, dass er selbst die Wohnblöcke besaß.
Der Wagen blieb stehen und riss sie damit aus ihren Gedanken. „Wir sind hier“, verkündigte Weiwen und drehte sich zu ihr um.
Sie hatten in einer Seitengasse gehalten, die neben dem Wagen gerade genug Platz hatte, als dass ein Fahrradfahrer mit etwas Geschick durchgekonnt hatte. Dabei war der Wagen sehr klein. Kleiner als die Minis, die man so in Amerika fuhr.
„Wo?“
„Zauberladen“, erwiderte Weiwen. „Geht es dir gut?“
Natürlich ging es das nicht. Dennoch nickte Pakhet und öffnete die Tür vorsichtig, um nicht an die Wand zu kommen.
Die trug ihre Waffe unter der schwarzen Lederjacke. Das Holster lag beruhigend auf ihrer Brust. So fühlte sie sich wenigstens nicht gänzlich hilflos.
Die Wände zu beiden Seiten krochen dem Himmel entgegen. Diverse Klimaanlagen ragten aus den Mauern heraus. Weiter oben hing eine Wäscheleine. Doch in der Wand des Hochhauses fand sich tatsächlich eine Hintertür. Sie sah aus wie der Hinterzugang zu einem Restaurant oder so, vielleicht ein Fluchtweg, doch genau dahin führte Weiwen sie.
Die junge Frau klopfte, sagte etwas auf Chinesisch.
Eine Männerstimme antwortete – ebenfalls auf Chinesisch. Dann wurde ein Riegel zur Seite geschoben.
Okay, das war sehr viel Klischee für einen Laden. Doch eine Sache ließ sich über Magier feststellen: Sie mochten das Klischee. Sie liebten es. Viele Dinge, die schon alte Märchen beschrieben hatten, die auf eine Art in Filmen und Serien beschrieben wurden, fanden sich irgendwo in der Realität. Vielleicht waren Magier auch einfach nur Nerds.
Die Tür wurde geöffnet und man ließ sie in einen Flur, der offenbar wirklich – jedenfalls dem Geruch nach – mit einer Restaurantküche verbunden war. Ein Mann, vielleicht um die dreißig und mit einem nicht ganz gleichmäßigen Bart, bedeutete ihnen zu folgen.
Pakhet sah Weiwen unsicher an. Da war diese leichte Panik in ihrem Magen. Was, wenn man sie verriet?
Sie schluckte, strich mit ihrer Hand über die Pistole unter ihrer Jacke und folgte. Fuck. Als ob die Pistole gegen Magier viel bringen würde.
Sie hasste Magier.
Sie hasste es gegen Magier zu kämpfen.
Dennoch folgte sie dem Mann zu einer Treppe und in einen Keller hinab.