„Joanne“, drang eine Stimme in ihr Bewusstsein durch. Sie war gefesselt. Hilflos.
„Joanne!“, rief die Stimme.
Sie würde sterben. Sie bekam keine Luft. Sie würden sie töten.
„Joanne.“ Jemand schüttelte sie und schaffte es damit endlich die Fesseln des Schlafes zu durchbrechen. Ihre Gedanken waren vernebelt – eine Nebenwirkung des Schlafmittels. Sie blinzelte Robert an.
„Was ist?“
„Ich glaube, du hattest einen Albtraum“, erwiderte er vorsichtig und setzte sich auf das Bett zurück. „Du hast dich hin und her gewälzt.“
Pakhet seufzte und rieb sich über die schweißnasse Stirn. Es war die zweite Nacht, die sie bei Robert übernachtete. Sie traute sich noch nicht wieder in ihr eigenes Haus zurück. Sie wollte nicht allein sein.
Ihr Blick glitt zu der Uhr auf dem Nachttisch hinüber. „Habe ich dich geweckt?“
Sie teilten sich das breite Bett. Immerhin wusste sie bei Robert, dass er keinerlei Interesse an ihr hatte.
Er seufzte. „Es ist schon okay. Ich weiß, dass es gerade hart ist.“ Nach den Worten presste er die Lippen aufeinander. „Also zumindest habe ich so viel verstanden.“
Pakhet nickte langsam. „Ja. Es ist …“ Verflucht. Das letzte Mal, dass es so schlimm gewesen war, war in Irak. Sie kannte Trauma, aber das hier war anders. Die Angst, die sie dort gehabt hatte, die Angst, die sie verspürt hatte, während sie dort gehangen und langsam ausgeblutet war. Sie wäre wirklich beinahe gestorben.
Da war wieder das Brennen in ihren Augen. Aber sie würde nicht weinen. Sie war zu stolz.
„Joanne …“, murmelte Robert vorsichtig. „Vielleicht solltest du dir jemanden zum Reden suchen.“
Sie nickte. Sie wusste sehr genau, dass er es nicht hören wollte. So lieb er auch war, so sehr er ihr auch helfen wollte, konnte er einfach nicht ertragen zu hören, was sie in ihrem Job tat und was sie erlebte. Letzten Endes wollte er die vermeintliche Sicherheit, die er so spürte, nicht aufgeben. Wahrscheinlich würde er ihre Freundschaft nicht ertragen, würde er darüber nachdenken, wie viele Menschen sie bereits getötet hatte.
Sie wusste nicht einmal wie viele es waren. Ach, sie wusste nicht einmal mehr, wie viele es dort in Shanghai gewesen waren.
„Vielleicht.“ Sie rückte zum unteren Ende des Bettes. Sie wollte sich das Gesicht waschen.
Die Wahrheit war, dass sie niemanden hatte, mit dem sie reden konnte. Sicher, es gab Smith, aber Smith war kein Freund. Niemand zum Reden. Und ein Psychologe? Nein, das war nichts, das sie riskieren wollte. Nicht solange Michael lebte. Nein. Allgemein nicht. Was sollte sie mit einem Psychologen auch besprechen?
Sie öffnete die Tür zu Roberts Badezimmer und betrachtete sich im Spiegel. Trotz des Schlafmittels hatte sie Ringe unter den Augen. Sie war auch blasser, als normal. Ach, hoffentlich wurde sie nicht krank. Das konnte sie nicht auch noch gebrauchen.
Vorsichtig stellte sie das Wasser an und ließ es über ihre Hand laufen. Es fühlte sich angenehm an. Dann bückte sie sich und wusch sich das Gesicht. Das kalte Wasser wirkte erfrischend. Beruhigend.
Für einen Moment schloss sie die Augen, konzentrierte sich auf ihre Atmung und versuchte alle Gedanken, Erinnerungen, Gefühle zu verdrängen.
Dann kehrte sie in das Hauptzimmer von Roberts recht kleiner Wohnung zurück.
„Alles in Ordnung?“, fragte er.
Sie seufzte. „Im Moment nicht. Aber es wird wieder.“ Sie schenkte ihm ein mattes Lächeln und kroch wieder zu ihm ins Bett. „Danke, dass ich hier bleiben kann.“
„Schon okay.“ Er seufzte. „Es ist ja nicht so, als hätte ich häufig Besuch hier.“ Damit streckte er sich aus und schaltete das Licht aus.
Natürlich bemühte Pakhet sich nicht, einen Psychologen zu finden. Dennoch war ihr Gewissen nach drei Nächsten schlecht genug, als dass sie Robert versicherte, dass es schon besser ging und in ihr eigenes Haus zurückkehrte.
Eigentlich sollte es ihr ein Gefühl von Sicherheit geben, lebte sie doch in einem Stadtteil mit eigener lokaler Sicherheit, doch das tat es nicht. Sie hatte ihr Haus nur mit dem nötigsten eingerichtet. Minimalistisch, hätten einige es genannt, während andere von einem Mangel an Identität gesprochen hätten.
So oder so kamen ihr die Räume im Moment seltsam leer vor.
Es fühlte sich seltsam an. Beängstigend. Ein Teil von ihr wollte irgendetwas kaufen im die Leere zu füllen, doch sie hielt sich davon ab. Später käme ihr alles zu voll vor, wenn sie das täte.
Sie brauchte nur eine Weile. Sie brauchte eine Weile, in der sie heilen konnte. Wenigstens hatte sich Michael bei ihr nicht gemeldet. Wahrscheinlich wusste er zumindest, dass sie heilen musste. Nicht psychisch, aber körperlich.
Besser wurde es jedoch nicht.
Sie wachte am vierten Morgen zurück in Südafrika mit einem Fieber und deutlichen Erkältungssymptomen auf. Es war nicht wirklich verwunderlich. Selbst wenn ihre latente Magie sie ein wenig resistenter gegen Infektionen machte, so war sie schwer verletzt gewesen, hatte Blut verloren, war ziemlich lange geflogen und noch länger an einem Flughafen in einem europäischen Land rumgehängen, während in Europa gerade Erkältungszeit war. Dazu kam ihre noch immer offene Wunde, die ihr Immunsystem in Anspruch nahm.
Sie hatte alles da, was sie brauchte. Medikamente um die Symptome zu bekämpfen. Einige Bonbons zum Lutschen. Tee. Und Kaffee, der dank der von vielen Albträumen durchbrochenen Nächte das einzige war, das sie bei Verstand hielt.
So lag sie auf der Couch in ihrem Wohnzimmer und zappte durch die Fernsehprogramme. Sie brauchte irgendetwas, um sich abzulenken. Normalerweise hätte sie Sport gemacht, hätte sich bis zur Erschöpfung ausgepowert, um so in den Schlaf und zur Ruhe zu finden, aber ihre Gesundheit verhinderte es. Auch die Alternative – sich betrinken und dann irgendjemanden für einen One-Night-Stand finden – war so außer Frage. Sie wusste dabei nicht mal, ob sie sich das trauen würde. Nicht im Moment. Die Erinnerungen an die Berührungen der Männer waren nur zu deutlich und schien beständig nur knapp unter der Oberfläche ihres Bewusstseins zu lauern. Wartete auf einen Moment der Schwäche, in dem sie hervorkommen konnte, um sie zu überfallen.
Dabei war Pakhet sich nicht einmal sicher, was es genau war. Es war nicht das erste Mal, dass sie jemand gegen ihren Willen berührt hatte. Es würde nicht das letzte Mal sein. Eigentlich sollte es die Folter sein, die ihr in Erinnerung bleiben sollte. Dennoch waren die Berührungen das erste, was in ihre Erinnerung kam, wenn sie nicht wachsam war. Die Berührungen und das Gefühl von Hilflosigkeit. Die Berührungen und der Ekel. Es schien ihnen einen besonderen Kick zu geben, zu wissen, dass sie verletzt war. Zu wissen, dass sie starb. Langsam. Ganz langsam.
Irgendwann hatte Li bemerkt, was ihre Angst war. Und er hatte es genutzt.
Sie schauderte.
Da war ein Teil von ihr, der es immer noch in Betracht zog einen Magier zu beauftragen, ihre Erinnerungen zu löschen. Aber das Risiko konnte sie nicht eingehen.
Es war damals im Irak genau so gewesen. Anders. Denn es war ein anderes Trauma. Doch die Symptome waren ähnlich. Die Albträume. Die Erinnerungen, die lauerten. Der Schweiß. Das Herzrasen.
Sie hatte damals geschafft, es zu verarbeiten, es weit genug zu verdrängen, dass es sie nicht mehr aufweckte. Es hatte gedauert. Verdammt, es hatte Monate gedauert. Aber am Ende hatte sie es geschafft. Und dieses Mal würde sie es auch schaffen. Selbst wenn die Monate hart waren.
Matt streckte sie die Hand nach der Tasse mit dem Tee aus und trank einen Schluck. Sie hatte eine frische Zitronenscheibe mit hineingelegt.
Wenigstens beruhigte es ihren kratzigen Hals. Würde es nur auch ihre Gedanken beruhigen. Sie hasste es zu warten, bis die Zeit die Wunden heilte.