Wer kann immer sagen, was richtig und was fasch ist? Wer wirft den ersten Stein? Manchmal heiligt der Zweck die Mittel - habe ich später irgendwo gelesen.
Ich war drei Jahre alt, als es passierte und kann mich fast an nichts von dem davor erinnern.
Im Rückblick musste die Bestimmung erfüllt werden, weil noch viel mehr an dieser Entscheidung hing, als am Anfang zu erkennen gewesen war.
Ich habe es erst viel später erfahren, aber da hat es mich nicht mehr interessiert, da hatte ich ganz andere Sorgen.
Ich kann mich bei früher oder davor bis heute eigentlich nur noch an den Strand erinnern.
Am Abend war ich noch im Waisenhaus, am nächsten Tag schon bei ihm. In seinem Bett. Nein - in unserem Bett.
Sandro.
Eigentlich hieß er Alessandro, aber ich nannte ihn immer nur Sandro. Und er nannte mich sein Engelchen.
Angelina. Angelina Toscini verriet er mir. Dabei hieß ich eigentlich Marie. Aber daran kann ich mich, wie gesagt, kaum erinnern.
Ich erinnere mich aber sehr gut an Sandro. Und an Gio. Eigentlich hieß der Giovanni und war Sandros Freund. Er war auch da, als ich hier ankam, ich kann mich an ihn entsinnen, weil er und seine Familie immer wieder zu Besuch kamen. Gio hatte drei Kinder und wir hatten viel Spaß zusammen. Sophia, seine Frau war sehr nett und blieb immer mit den Kindern bei mir, wenn Sandro weg musste.
Sandro war mir aber der liebste.
Mit seinen unsagbar zärtlichen Händen.
Seinem sanften Lächeln und der leisen, beruhigenden Stimme.
Ich wachte in einem großen Bett auf, ein riesiges Eisengestell, total verschnörkelt mit einem Himmel darüber.
Sandro stand neben dem Bett, deutete darauf und meinte leise:
»Hier werden wir immer nebeneinander schlafen. Du brauchst nie wieder allein zu sein, ich werde immer bei dir sein, auch wenn du schläfst. Hier wirst du immer sicher sein. Hier kann dir nichts passieren. Hast du das verstanden, Angelina?«
Ich lugte zwischen meinen langen blonden Haaren hervor und nickte scheu. Ich begriff nichts von dem was er mir sagte, aber später erzählte er mir stets von diesem ersten Tag und da konnte ich mir einiges zusammenreimen.
Ich fragte ihn, wie er hieß und nach Gios Namen, aber mehr interessierte mich zunächst nicht, denn die Sonne lockte mich hinaus.
Ich durfte im Garten spielen gehen. Bella nahm ich mit. Gio und Sandro saßen auf der Terrasse und schauten mir zu, aber ich hatte nur Augen für all die schönen neuen Dinge, die ich entdecken konnte dort draußen.
Als ich müde wurde, nahm mich Sandro auf den Arm und brachte mich ins Haus.
Er zeigte mir unser neues Zuhause. Dabei hielt er mich mit einem Arm fest umschlungen und streichelte mich mit der anderen Hand unentwegt weiter und es gefiel mir, weil es mir Geborgenheit und Sicherheit gab, die ich irgendwie verloren hatte. Dann fiel es mir wieder ein.
»Ich will zu Mama«, schluchzte ich ihm ständig ins Ohr, aber er sagte jedesmal nur »Schhht, Mama ist nicht hier und du bleibst jetzt bei mir. Es wird alles gut, mein Engelchen.«
Ich wusste ja, dass Mama nicht wiederkam. Papa auch nicht. Eines Tages kamen sie einfach nicht wieder und da meine Großeltern, an die ich mich auch kaum erinnern konnte, zu alt waren, um mich aufzunehmen, kam ich ins Waisenhaus.
Es war nicht besonders schön dort. Niemand hat sich mit mir beschäftigt.
Mama und Papa kamen nie wieder.
Aber dann kam Sandro.
Ich mochte ihn irgendwie sofort. Und er hatte mich mitgenommen hierher. Hier war es viel schöner.
Ich merkte mir die Räume nicht, außer das Bad in der oberen Etage, weil da die Toilette war. Und das Schlafzimmer, das war unten. Alles war ziemlich dunkel, wenn die Fensterläden geschlossen waren. Die Lampen brachten auch keine große Helligkeit, aber ich konnte durch meinen Tränenschleier sowieso nicht viel erkennen.
Sandro hatte sich das bestimmt einfacher mit mir vorgestellt, denn an diesem ersten Tag jammerte ich abends jedenfalls stundenlang nach meiner Mami und ließ mich nur schwer beruhigen. Essen wollte ich nicht wirklich, obwohl er viele leckere Sachen vor mir aufbaute, aber ich schüttelte vehement den Kopf.
Auch trinken wollte ich nichts mehr, aber da ließ Sandro nicht mit sich spaßen.
Er versuchte mir Wasser mit einem Glas einzuflößen, aber ich spuckte es regelmäßg unter Tränen wieder aus. Er sah mich erst traurig, dann resigniert an.
Als er aufstand, holte er eine Nuckelflasche, nahm mich auf den Schoß und zeigte mir, wie toll meine Bella aus der Flasche trank. Er lobte sie dafür - das wollte ich auch!
Also trank ich dann doch einen Becher Wasser. Ich durfte mir den Becher aussuchen und bekam am Ende auch mein Lob, daüber freute ich mich. Dann sprach er sehr ernst zu mir.
»Ich werde dich zu nichts zwingen, außer es ist lebenswichtig für dich. Trinken ist lebenswichtig, besonders für so ein kleines Mädchen wie dich. Du kannst dir den Becher oder das Glas aussuchen, aber trinken musst du! Hast du das verstanden, Angelina?«
Die Falte zwischen seinen Augenbrauen machte mir Angst und ich begann zu weinen, aber, als er eine hastige Bewegung machte, als wolle er mich schlagen, zuckte ich zurück und nickte schnell
Er stupste mir aber nur an meine Nasenspitze, damit ich ihm gut zuhörte.
Diesen Zusammenhang begriff ich aber erst später. Nachdenklich schaute er mich an und zog mich rasch an sich.
»Ich schlage dich nicht, mein Engelchen. Ich habe andere Möglichkeiten, wenn du nicht gehorchst. Aber du brauchst keine Angst zu haben, wir werden uns ganz bestimmt gut vertragen. Nun ab mit dir nach oben zum Zähne putzen, ich lege dir dein neues Nachthemd raus und dann gehst du schlafen. Nach Essen frage ich dich dann morgen früh wieder. Bis dahin hast du hoffentlich ordentlich Hunger. Wenn du brav bist, und davon gehe ich aus, dann zeige ich dir morgen, in welch wundervoller Gegend wir hier wohnen. Beeil dich, dann bringe ich dich gleich ins Bett. Zahnbürste und Zahnpasta liegen oben bereit.«
Er schob mich sanft Richtung Treppe.
Ich warf Gio einen hilfesuchenden Blick zu, aber der nickte auch nur gen Treppe, also kletterte ich die Stufen hoch und suchte das Bad auf. Als ich nach einer Weile nach unten kam, saß Sandro schon auf der Bettkante und hielt mir mein Nachthemd entgegen.
Ich war noch gar nicht müde, dachte ich jedenfalls, aber ich wagte nach der Sache mit dem Wasser nicht, ihm hier zu widersprechen. Ich zog mühselig meine Sachen aus und schlüpfte rasch in das Nachthemd. Dann kuschelte ich mich unter die Decke, die er mir auffordernd hochgehalten hatte und legte mich hin.
Aber dann kippte meine Stimmung.
Alles machte mir plötzlich Angst und ich kroch in die äußerste Ecke und rollte mich zusammen, versteckte mich unter der Decke und heulte wie ein Schlosshund.
Sandro legte sich dicht neben mich.
An diesem Tag habe ich neben seiner Stimme, seine Hände kennengelernt, die mich so sanft streichelten, bis ich aufhörte zu weinen.
»Hast du Angst, Angelina?« Seine Stimme so sanft wie ein Hauch.
Ich weiß noch, dass ich dachte, er meinte mich nicht.
Weil ich Marie hieß.
Trotzdem nickte ich.
Er meinte doch mich.
Sandro zog mich an sich, drehte sich auf den Rücken, sodass ich auf ihm lag und seinen Herzschlag hörte, seine Hände überall spürte, die unablässig über mich fuhren. Über meinen Kopf, den Rücken, bis hinunter zu meinen Zehen und so zart, dass es mich fast kitzelte.
Er roch gut, er war warm und fühlte sich stark an. Ich schloss die Augen und wurde ruhig. Irgendwann schlang ich meine Arme um seinen Hals und schlief endlich ein.
Mein neues Zuhause - bei Sandro.
Alles wird gut.