Auf alles Schreckliche vorbereitet öffnete ich die Tür.
Ein uniformierter Zugbegleiter!
Der Schaffner entschuldigte sich vielmals für die späte Störung, wollte aber gern unsere Fahrkarten sehen und entwerten.
Wenn er gewusst hätte, warum mir der Schweiß ausgebrochen war, er hätte mich vermutlich sofort eingeschlossen. Mir fiel fast ein ganzes Gebirge vom Herzen. Es bummerte noch in meinem Brustkorb, als ich schon in der Koje lag und es dauerte eine Weile, bis ich den Schreck verdaut hatte.
Ich fiel in einen unruhigen Schlaf, wachte häufig auf und schaute regelmäßig nach dem schlafenden Kind, das aber entspannt unter der Decke lag. Letztendlich legte ich mich zu ihr, um mich nicht ständig aus dem Schlaf zu reißen. Es war schmal, aber ich nahm sie in meine Arme und sie lag wie ein kleiner Engel bei mir.
In meiner Brust wurde es eng, als ich ihr süßes Gesichtchen im Dämmerlicht der Schlafbeleuchtung betrachtete.
»Ich nenne dich Angelina. Das passt hervorragend zu dir. Von jetzt ab, sollst du ein schönes Leben haben, ich werde alles dafür tun, damit es dir an nichts fehlt, mein Schatz.« Sie verzog im Schlaf ihr Mündchen zu einem Lächeln, als wenn sie mein Flüstern vernommen hätte. Ich gab ihr einen Kuss auf die Stirn und die nächsten Stunden verbrachten wir ungestört und in Ruhe.
Wir hatten noch ungefähr zwei Stunden Zeit, als ich erwachte. Angelina schlief noch tief und fest, also konnte ich mich frisch machen und alles vorbereiten, damit wir noch frühstücken konnten, bevor wir ankamen.
Als ich bereit war, weckte ich sie. Meine Knie wurden weich, als sie mich mit diesen wunderschönen Augen ansah. Alles in ihnen drückte Verwirrung aus und sie wich zurück, lugte unter der Decke hervor. Dann kam die Frage, die ich erwartet hatte.
»Mama? Ich will zu Mama.«
Innerlich seufzte ich. Nach außen setzte ich das liebevollste Lächeln auf, das mir unter diesen Umständen gelingen wollte und sagte: »Mama ist nicht hier, Engelchen. Über Mama reden wir später noch, ja? Jetzt sollten wir frühstücken, bevor wir aussteigen müssen. Hast du Hunger? Ich habe Brot, Apfel und Weintrauben. Ich hoffe, du magst das?«
Ich hielt ihr meine Hand entgegen, um ihr zu helfen, aus der Koje zu krabbeln, aber erst als ich die Flasche Wasser in die andere Hand nahm, legte sie zögerlich ihre kleine Hand in meine und ließ sich hinausbefördern. Sie griff gierig nach der Flasche, während ich sie auf den Arm nahm und auf eine der Sitzgelegenheit setzte. Nach wiederholtem Ansetzen der Flasche, stellte sie sie auf dem kleinen Tisch ab und griff nach einem Stück Apfel. Herzhaft biss sie hinein und ich atmete auf. Wenn sie Essen und Trinken von mir annahm, hatte ich schon halb gewonnen. Das Problem mit dem Vermissen ihrer Mama sollte gleich nach der Ankunft erledigt werden. Ich würde Giovanni gleich nach unserer Ankunft damit beauftragen. Sie sollte nicht länger leiden, als unbedingt nötig. Das hatte sie schon vorher viel zu lange gemusst.
Ich schaute ihr eine Weile zu. Dann schlug ich ihr vor, dass wir noch eine kleine Katzenwäsche einlegen wollten und wedelte mit einem nassen Waschlappen, den sie grinsend betrachtete und wieder von ihrem Apfel abbiss. Vorsichtig begann ich sie zu entkleiden, und sie mit dem Waschlappen provisorisch zu waschen, während sie neugierig alles verfolgte und derweil weiter das Obst verputzte. Das Abtrocknen mit dem Handtuch und anschließende Anziehen nahm sie genauso gelassen hin, aber dann wurde sie unruhig.
Sie sah sich suchend um, konnte aber nicht finden, was sie wollte. Sie rutschte von der Bank und lief zu den Schlafkojen, schaute hinein. Dann drehte sie sich um.
»Bella? Wo ist Bella?« Unglücklich zupfte sie an der Zudecke, als mir ein Licht aufging. Sie suchte ihre Puppe und die musste noch in der Koje sein! Ich beglückwünschte mich innerlich, dass wir dieses Kuschelpüppchen noch mitgenommen hatten. Jetzt hatte sie etwas, was sie kannte und in den Arm nehmen konnte. Ich ging zu ihr hinüber und hob die Decke etwas an und da lag sie neben dem Kopfkissen.
Angelina strahlte mich tatsächlich ganz kurz an, dann angelte sie nach der Puppe und schloss sie sogleich in ihre Arme. Ich nickte ihr lächelnd zu und ließ sie noch ein wenig spielen, bevor ich sie vorläufig wieder in den sicheren Schlaf schickte.
Als wir am Bahnhof ausstiegen, stand die Sonne bereits hoch am Himmel. Giovanni nahm uns am Bahnsteig in Empfang.
Er übernahm das Gepäck und ich trug die Kleine in eine Decke gewickelt - eben ein müdes Kind, nichts ungewöhnliches am Bahnhof.
Er brachte uns mit seinem Auto zu unserem neuen Zuhause. Das Haus lag auf einer Anhöhe und war ursprünglich ein Stall gewesen - abgelegen von anderen Ortschaften, früher für Weidetiere.
Es war sehr gemütlich und urig eingerichtet. Nichts außer den Türen und der Aufteilung der Räume erinnerte mehr an sein früheres Dasein.
Ich legte die Kleine im Schlafzimmer ins Bett und Giovanni und ich kehrten auf die Terrasse zurück.
Gio mit seiner Familie, dazu gehörte auch noch sein fast einjähriger Sohn Jeanluca und ich, gehörten ebenfalls den Savantoj an. Einer neu entstandenen Spezies mit dem dringenden Auftrag, die Welt vor den anderen Menschen zu retten, zu denen leider auch Angelina gehörte.
Den echten Maljuna (Alten) unter uns, waren die Begleitumstände des Erscheinens der Savantoj besser bekannt, aber ich hatte bisher noch keinen von ihnen getroffen. So wusste ich nur von einem selbsternannten Wächter des Universums, Apolono, der dem Untergang geweihten Planeten eine letzte Chance geben wollte, nachdem die Menschen so kläglich versagt hatten.
Er soll den Legenden nach den Planeten an einem unbekannten Zeitpunkt genommen und für kurze Zeit in die Umlaufbahn um ein schwarzes Loch geführt haben. Die dort vorhandenen Gase sollten dafür sorgen, dass alles Leben auf der Erde eine andere Einstellung zueinander bekommen sollten.
Was auch immer schief gegangen sein musste damals, Tatsache war, nach der Rückführung des Planeten gab es leider nur vereinzelte Menschen, die sich wirklich geändert hatten. Nämlich die, die sich dieser Umstände bewusst waren. Ihnen war von Anfang an klar, dass sie unterlegen waren was die Anzahl betraf, jedoch hatten sie einige Kräfte und Eigenschaften erhalten, die ihnen helfen sollten, den Auftrag doch noch zu erfüllen – stellvertretend für alle Lebewesen gleichermaßen.
Mit einigen Fähigkeiten bestückt, sollten sie bei der Durchführung von der la Kuraco, der Heilung der Welt, dafür sorgen, die Erde noch zu retten. Ob es irgendwo genauere Aufzeichnungen über den Plan gab, wusste ich nicht, aber die mündliche Überlieferung wurde jedem Savanto mitgegeben, sodass wir alle wussten, was wir wann zu tun hatten. Aufträge und Aufgaben verteilten wir selbständig unter uns. Geheimhaltung war allerdings oberstes Gebot. Die anderen Menschen sollten sich in Sicherheit wiegen und ihr Schicksal selbst in den Untergang lenken, wenn sie doch anscheinend zu nichts anderem in der Lage waren. Wir waren die Savantoj, die sich von da ab unerkannt unter den anderen Menschen etablierten und organisierten, bis sie hoffentlich rechtzeitig alle Maßnahmen zur Rettung des Planeten getroffen und durchgeführt hatten. Bei uns gab es keine Gewalt.
Ich berichtete Gio von den Ereignissen der Reise und wir klärten, wie es die nächsten Tage ablaufen sollten.
Hier oberhalb eines wunderschönen Tals in der Toskana hatte man einen fatastischen Ausblick. So weit wie man sehen konnte, befand sich das Land in Familienbesitz und dieses Domizil war schon lange für mich geplant gewesen, als neues Zuhause bzw. vorläufiges Versteck.
»Danke, mein Freund«, sagte ich, als wir es uns mit einer kühlen Limonade vor dem Haus gemütlich gemacht hatten. »Auch an Sophia - sie hat alles prima vorbereitet.«
Gio winkte ab. »Kein Problem, Sandro. Was planst du in den nächsten Tagen mit der Kleinen?«, fragte er nach.
»Ich möchte, dass wir die ekspansio de sentoj, die Gefühlserweiterung, bei ihr zu ihren Eltern usw. so schnell wie möglich schaffen. Sie hat schon ein paar Mal nach ihrer Mutter gefragt. Das war dort im Waisenhaus bestimmt auch nicht anders. Trotzdem möchte ich nicht, dass sie unter der Situation weiter leidet. Die Bezugspersonen, die Erzieher, Freunde und keine Ahnung wer noch, da sollten wir schnellstens was tun. An erster Stelle steht aber für mich Angelina. Ihr soll es so gut wie möglich gehen. Es ist schon sonst allerhand, an das sie sich gewöhnen muss.«
Gio nickte.
»Angelina also? Schöner Name.«
Jetzt lächelte Sandro zustimmend.
Gio trank einen Schluck Limonade, stellte das Glas auf den Tisch.
»Soll ich mich gleich darum kümmern? Magst du sie danach wach machen? Ich bin schon ganz gespannt auf die Kleine.«
»Dann lass es uns schnell hinter uns bringen. Sie hat auch lange genug geschlafen.«
Wir gingen zurück ins Haus und in das Schlafzimmer, wo das Mädchen eingerollt im Bett lag.
Aber bevor Gio loslegen konnte, wachte Angelina auf.
Nun mussten wir das mit der Gefühlserweiterung wohl doch nochmal verschieben, aber wir hatten hoffentlich genug Ablenkung für sie.