Wir hatten uns darauf geeinigt, dass wir uns täglich etwas wünschen durften und Sandro mochte es sehr, dass ich mir immer wieder das Kuschelöl - wie ich es nannte - von ihm wünschte. Er bestand nur darauf, dass ich es nie zwei Tage hintereinander haben durfte, weil ich mir auch andere Sachen wünschen und etwas neues kennenlernen sollte. Unter Protest musste ich mich fügen, aber immer, wenn mir nichts anderes einfiel, war es Sandro, der mir Vorschläge machte, die mir nach und nach mehr gefielen. Er hatte mal wieder recht gehabt, dass es auch andere schöne Dinge gab, wie toben im Garten, Kissenschlachten oder Lieder singen, die er mir geduldig beibrachte und noch geduldiger endlos mit mir wiederholte.
Trotzdem blieb das Kuschelöl mein Favorit und ich forderte es so oft ein, wie ich durfte.
Ich erwischte Sandro dabei, wie er mich manchmal mit einer Mischung aus Stolz, Liebe und Besorgnis beobachtete, aber wenn er es bemerkte, setzte er sofort wieder eine fröhliche Miene auf und ich vergaß es schnell.
Irgendwann kam er auf meine Frage zurück, die ich ihm gestellt hatte, als er das Glas fallen ließ. Er musste sich wohl etwas überlegt haben und tat nun so, als wäre in der Zwischenzeit gar nichts passiert, als er begann, mir von seinen Wünschen zu erzählen.
»Ich wünsche mir, dass du ganz viel lernst. Natürlich helfe ich dir dabei und es wird eine Weile dauern, aber wir haben Zeit. Es wird dir Spaß machen, aber manchmal auch anstrengend sein. Heute bist du noch klein, deswegen fangen wir langsam an zu üben. Ich möchte dir alles beibringen, was ich weiß. Wir fangen damit an, dass du deinen Namen aufschreibst. Ich gebe dir eine kleine Tafel und Kreide, schreibe es dir vor und dann übst du fleißig. Willst du das für mich tun?«
Ich hatte keine Ahnung, was er sich genau vorstellte, aber ich nickte folgsam.
An diesem Tag begann ich zu lernen.
Meinen Namen schreiben.
ANGELINA.
Nicht MARIE.
Die Tafel wurde die nächsten Wochen mein ständiger Begleiter. Sandro bastelte mir ein Lederband darum, damit ich sie um den Hals hängen konnte und die Kreide musste ich vorsichtig daran klemmen. So war ich jederzeit gerüstet, zwischendurch zu üben. Es machte mir Spaß und am meisten freute ich mich, wenn Sandro meine Künste stolz würdigte.
Ein neues Jahr hatte begonnen, aber das sagt mir nichts. Ich merkte ein paar Tage später, dass an meiner Seite vom Bett an der langen Stange nach oben ganz unten vier kleine Schleifen angebracht waren. Sie waren klein, darum habe ich sie erst später bemerkt, aber irgendwann sah ich sie und ich fragte Sandro danach.
»Die drei grünen Schleifen sind die drei Jahre, in denen du mich noch nicht gekannt hast. Die blaue Schleife darüber steht für dein viertes Jahr hier bei mir und wenn das geschafft ist, kommt die nächste blaue Schleife dazu. Mindestens zehn blaue Schleifen werden noch folgen. Vielleicht noch ein paar mehr. Wenn dann die erste rote Schleife dort erscheint, dann wirst du langsam erwachsen und wir beginnen, unsere gemeinsame Zukunft zu planen. Ich werde dir dann viel erklären müssen. Und dann gibt es noch viel neues zum lernen, aber da hast du noch viel Zeit für. Wir werden viel Spaß haben und du wirst bis dahin schon sehr schlau sein. Irgendwann kommen für den Rest unseres Lebens die goldenen Schleifen. Die sind dann für uns beide. Wenn du es dann willst.«
Ich verstand es natürlich nicht, aber ich war erstmal zufrieden, dass es immer mehr Schleifen geben würde.
Ich lernte schnell, aber es gab noch so viele andere Dinge, die mich interessierten und Sandro verlor nie Geduld, mir alles zu erklären oder es mich ausprobieren zu lassen.
Ab und zu holte er eines der Bücher aus der Kommode und las mir daraus vor. Als er aber merkte, dass ich das noch nicht verstand, legte er sie wieder weg. Er meinte, da würden wir später zu kommen. Noch hatte ich ja auch in der Natur und im Haus zu lernen. Wenn ich das mit Sandro zusammen machen durfte, machte es mir meistens auch viel Spaß.
Er konnte mir so viel erzählen zu Blumen oder Tieren und hatte viele Bilder, die er mir zeigte. Oder wir konnten vieles draußen sehen, das gefiel mir noch besser, aber da waren wir immer auf Zufälle angewiesen.
Die Sprache war nie ein Problem für mich, denn ich lernte mit Maria und Marcella nebenher Italienisch und mit Sandro lernte ich Deutsch und Englisch, sodass ich mein Dänisch kaum noch verwendete. Obwohl Sandro auch diese Sprache beherrschte, aber das fiel mir nicht besonders auf. Auch Gios Familie konnte sich in verschiedenen Sprachen unterhalten, sie wechselten nach Belieben, manchmal gab es an einem Tag nur eine bestimmte Sprache, am nächsten eine andere. Ich fand es einfach lustig und lernte so nebenher sehr viel, was mir gar nicht als Lernen vorkam.
Das war bestimmt auch gut so, weil es mit den Jahren immer mehr wurde, was wir uns so vornahmen, aber Sandro verstand es immer, mir das sehr gut zu erklären und wo es ging wurde geübt, oft als Spiel und nebenher, wenn wir draußen spielten, wanderten oder Kletterübungen machten. Er hatte mir in der Nähe an den Bäumen Seile angemacht, eine Schaukel und statt eines Baumhauses, bauten wir eine "Hütte" im Wald aus Sträuchern und viel Moos obendrauf, sodass es sogar einigermaßen wetterfest war. Mein eigenes Häuschen. Ich war da ziemlich stolz drauf und sammelte da drin meine Schätze, wie Steine oder Kienäpfel, Blätter oder was auch immer ich auf unseren Wegen so finden konnte und was ich eben schön fand.
Marcella war meine liebste Freundin, fast wie eine Schwester. Wir verstanden uns ohne viele Worte, mochten dasselbe Essen und dieselben Spiele und wir teilten all unsere kleinen Geheimnisse, die kleine Mädchen so hatten. Sie durfte deswegen auch mit in mein Häuschen und wir spielten, wann immer wir Freizeit hatten und das Wetter nichts anderes zuließ dort drinnen.
Sandro liebte es, mit mir Ausflüge zu machen, um mir Tiere, Pflanzen und alles drumherum zu zeigen. Als ich noch so klein war, sparte er sich die richtigen Fachbegriffe. Also er nannte sie, aber ich musste sie mir noch nicht merken, das wäre nie gegangen. So oft wie möglich zeigte er mir die Natur, in der wir lebten mit seinen Tieren und Pflanzen.
Als der erste Schnee fiel, war ich ganz aufgeregt und selig, als Sandro mir versprach, dass wir noch im Schnee spielen würden. Ich konnte mich kaum mehr an Schnee erinnern, aber diese Massen von hier vergaß ich nie.
Wie alle Kinder liebte ich es draußen herumzutoben. Im Herbst zwischen den Blättern zu wuseln und sie mit Begeisterung hochzuwerfen, sodass sie auf mich herabrieselten. Doch der erste Schnee begeisterte mich noch mehr.
Sandro ließ mich oft gewähren und schaute meinem Treiben zu. Oder er beteiligte sich ausgiebig daran, was mich erst Recht aufdrehen ließ.
Die Zeit verging, wir Kinder lernten viel, die Erwachsenen kümmerten sich um uns und die Jahreszeiten wechselten sich ab, Jahr um Jahr.
Wir wurden größer.
Ich merkte irgendwann, dass es Dinge gab bei uns oder auch in Gios Familie, die mir nicht so klar waren, die ich einfach nicht verstand.
Schule war ein Thema, Studpartnero kamen mir auch mal ins Ohr, aber ich wurde immer abgewimmelt.
Wenn ich Marcella fragte, warum sie denn zur Schule ging und ich bei Sandro lernte, dann sagte sie immer, dass müsse mir Sandro erklären.
Sandro wiederum behauptete stets, er würde mir mit der ersten roten Schleife alles erklären, was ich wissen will.
Es gefiel mir nicht, dass ich es noch so lange nicht wissen sollte, aber wann immer ich versuchte, etwas herauszubekommen, bekam ich dieselben Antworten. Mit meinen mittlerweile zehn Jahren fühlte ich mich groß genug, um endlich ein paar antworten zu bekommen.
Es machte mich wütend.
Auf Sandro, auf Marcella, auch auf Gio.
Weil ich mit niemanden darüber reden konnte, legte ich mir eine Art Tagebuch an. Ich schrieb meine Fragen hinein und auch wie oft ich keine Antwort bekam, wenn ich mich danach erkundigte. Ich hielt es vor Sandro geheim, weil er mit mir nicht darüber reden wollte.
Wenn ich die erste rote Schleife bekam, dann würde ich ganz genau aufpassen, ob ich auch zu allen Fragen die Antworten bekommen würde ...
Als ich die erste rote Schleife bekam, erhielt ich tatsächlich die Antworten.
Auch auf Fragen, die ich nicht gestellt hatte.
Dann kamen die Fragen, die Sandro mir stellte.
Die wollte und konnte ich dann nicht beantworten.
Aber erst kam das Gespräch, das jeden Tag schlimmer wurde.