Mama vergessen konnte ich mir zu diesem Zeitpunkt gar nicht vorstellen. Mit meinen gut drei Jahren war sie immer der Mittelpunkt meines Lebens gewesen, bevor ich ins Waisenhaus kam.
Sandro behielt aber recht, schon am nächsten Tag musste ich nicht mehr um sie weinen und ich vermisste sie gar nicht.
Ich hatte ja Sandro.
Hier gab es auch so viel zu entdecken, sodass ich kaum die Gelegenheit hatte, über irgendwas nachzudenken.
Die ersten Wochen liefen ruhig ab.
Ich erinnere mich an Spaziergänge in unserem Wäldchen, vorbei an dem kleinen Bach, der entlang eines Trampelpfades durch die Gegend rauschte. Ein Geräusch, welches ich lieben lernte.
Ich konnte lange dort sitzen und dem Wasser mit den Augen folgen, bis es im Gebüsch verschwand. Sandro saß dann meistens etwas abseits und beobachtete mich, bis ich mich besann und zu ihm zurückkehrte, damit wir uns auf den Heimweg machten.
Ich fühlte mich jeden Tag heimischer hier, als wenn ich nie woanders gewesen sei. Selbst an meinen neuen Namen hatte ich mich gewöhnt.
Wenn ich fiel und mir wehtat, weinte ich, aber Sandro tröstete mich immer gleich. Je öfter mich Sandro streichelte und schaukelte, desto sicherer fühlte ich mich bei ihm.
Von da ab war Sandro meine Welt.
Mit jedem Tag wurde er mehr mein Held, denn er war immer für mich da, redete mit mir, tröstete mich, spielte alles mögliche mit mir und wir lachten viel zusammen.
Ich fand mich in unserem Haus gut zurecht. Mit der Zeit hatte ich jeden Winkel erkundet und alles neugierig auseinander genommen und Sandro erlaubte mir fast immer, alles genau zu untersuchen. Außer, wenn mir Gefahr drohte, dann achtete er penibel darauf, dass ich mich fernhielt und konnte auch sehr streng sein, was mir anfänglich Tränen in die Augen schießen ließ.
Unerbittlich bestand er jedoch auf die Einhaltung gewisser Regeln, zum Beispiel, dass ich kein Feuer anmachen durfte, wenn er nicht dabei war. Er weigerte sich, diese Dinge wie Streichhölzer von mir fernzuhalten.
Natürlich konnte ich nicht widerstehen und spielte in einem vermeintlich unbewachten Augenblick mit den Dingern und wenn ich ansonsten auch nicht viel von seinen Reden behalten habe aus der Zeit - seine Lektion hier in diesem Falle, reichte mir fürs ganze Leben.
Er griff nach meinem Handgelenk, steckte mir eines der Hölzchen zwischen die Finger und zündete es mit einem Feuerzeug an.
Fasziniert betrachtete ich die Flamme, wie sie nach und nach herunterbrannte.
Natürlich war ich mir der Gefahr nicht bewusst. Als die Flamme meine Finger erreichte und ich vor Schreck losbrüllte, schaute er nur zu, wie ich das Ding fallen ließ. Ich schrie immer noch, aber diesmal tröstete mich Sandro nicht sofort. Scheinbar ungerührt sagte er zu mir: »Wenn ich sage, du gehst nicht an die Streichhölzer, dann tust du das auch nicht. Sonst passiert genau das. Das tut weh. Es tut hoffentlich so weh, dass du das nie wieder tun wirst, Angelina.«
Dann ließ er mich da stehen und ich weiß nicht wie lange ich geheult habe, es kam mir wie Stunden vor. Ich konnte an meinen Fingern nichts schlimmes entdecken, aber es tat trotzdem noch weh.
Ich schlich mich schluchzend an Sandro heran, der in der Küche mit den Essensvorbereitungen begonnen hatte und mich nach wie vor nicht ansah. Ich umklammerte verzweifelt seine Beine, aber dennoch dauerte es eine ganze Weile, bevor er zu mir hinuntersah und mich fragte: »Du gehst nie wieder an Streichhölzer oder Feuer! Versprichst Du mir das?«
Erst als ich es versprach, beugte er sich zu mir herunter und nahm mich auf den Arm. Er ging mit mir vor die Tür und ich schluchzte noch ewig in seiner Halsbeuge, bis ich mich beruhigt hatte.
Die Finger erholten sich nach einigen Tagen, doch die Schmerzen hatten mich so beeindruckt, dass ich mich ab sofort strikt an mein Versprechen hielt.
Wir sprachen erst viel später wieder darüber. Bis dahin hatte mich Sandro mit seiner Vorführung vor Schlimmerem bewahrt, wofür ich ihm heute sehr dankbar bin.
Viel mehr verstand ich nicht, eigentlich war es für mich nur wichtig, dass er mich lieb hatte.
Er sagte es mir täglich.
Sogar mehr als einmal, wenn es sich ergab. Mehr als diese Worte, erzählten mir aber seine Augen dabei. Wenn wir uns ansahen, beschlich mich oft ein so merkwürdiges Gefühl, ich konnte es nicht beschreiben. Aber mir kam es so vor, als wenn wir verbunden waren in diesen Momenten, wir uns ohne Worte verstanden - und es war ein schönes Gefühl.
Am Anfang kamen Gio und seine Familie noch nicht so oft zu Besiuch, aber so einmal alle vier Wochen tauchten sie bei uns auf und wir verbrachten aufregende Stunden zusammen.
Auch wenn die Erwachsenen immer dachten, ich würde von ihren Gesprächen nichts mitbekommen, so schnappte ich doch eine Menge ihrer Unterhaltungen auf, wenn sie meinten, wir Kinder würden spielen.
Gio und Sophia hatten zwei Mädchen, die wenig älter als ich waren und ein Babyjungen, der immer bei Sophia blieb, wenn er nicht irgendwo auf einer Decke lag. Oft beschäftigte ich mich mit dem Kleinen, der sonst ganz allein da liegen musste, aber ab und zu tobte ich auch mit Maria und Marcella herum. Wir hatten hier das Gelände für uns und durften praktisch alles, wozu wir Lust hatten. Die Erwachsenen unterhielten sich meistens am Tisch, das fanden wir Kinder immer langweilig.
Vieles von den Gesprächen verstand ich nicht und vergaß es schnell wieder. Bei manchen Themen allerdings bemerkte ich eine gewisse Anspannung und einzelne Worte brachte ich später damit in einen direkten Zusammenhang. Kriege, Kämpfe, Menschen, die unbelehrbar waren. Und den Unsinn, dass man Kindern nicht Liebe zeigen, aber sie den Grausamkeiten der Welt einfach aussetzen dürfen. Sandro sah bei diesen Unterhaltungen oft richtig böse aus. Wenn er merkte, dass ich ihn ansah, setzte er rasch ein Lächeln auf.
Ich überlegte, dass ich überall hier Liebe sehen konnte. Zwischen Sandro und mir, zwischen Gio und Sophia und ihren Kindern. Alle gingen sehr offen damit um und scheuten sich nicht, ihre Zuneigung jederzeit zu zeigen mit Umarmungen und Küssen, Streicheleinheiten Trost und Zärtlichkeiten.
So fand ich das auch alles ganz normal - von Kriegen und Kämpfen wollte ich gar nichts wissen.
Ich konnte ja nicht ahnen, dass das später für uns alle eine so große Rolle spielen würde.