Sie hatte sie bekommen.
Ich wusste es, denn Sophia hatte es mir über die Wolken mitgeteilt. Ich hatte mich nach meinem Zusammenbruch gerade wieder einigermaßen gefangen. Ich verbot mir selbst, mich noch irgendwelchen Hoffnungen hinzugeben. denn es passierte auch jetzt nicht mehr als vorher auch schon. Nichts.
Gut, sie hatte endlich ihre erste goldene Schleife. Es kamen weitere dazu.
Nur das bedeutete für mich noch gar nichts. Sie meldete sich nicht, es kam nicht das geringste Zeichen von ihr. Jede Woche, die verging, machte es mir grausam klarer. Es würde sich nichts mehr ändern. Sie war für mich unerreichbar geworden. Ich schob den vagen Plan, sie als Studpartnero bis zu ihrer Altersfestsetzung zu begleiten, mit aller Macht von mir.
Jetzt könnten wir wieder zusammen sein, die Zeit für das richtige Alter könnten wir gemeinsam abwarten, das wäre ein so schöner Anfang für uns Zwei gewesen. Nein, sie wollte es nicht.
Sie wollte mich nicht.
Zeit, zu gehen.
Meinen depressiven Anwandlungen konnte ich umgehen, wenn ich mich mit meiner neuen Aufgabe beschäftigte. Zumindesten versuchen wollte ich es und ich vertiefte mich in alle Besonderheiten, den die Aufgabe für mich bereithielt. Ich erwischte mich zu oft mit Tränen in den Augen und wurde langsam wütend über mich selbst. Bis ich es endlich schaffte, mir eine Art Tunnelblick zuzulegen, der meine Gefühle gänzlich ausschaltete, dauerte eine Weile.
Ab da ging es mir besser. Jedenfalls fühlte ich mich nicht mehr so entsetzlich leer.
Ich füllte meinen Kopf mit Plänen, Karten und einer Übersicht über die angrenzenden Staaten. Im Falle eines Falles musste ich mich mit diesen Sprachen leidlich auskennen. Ich sollte in Budapest aus den Staatsarchiven Grundrisse von verschiedenen offiziellen und wichtigen Gebäuden beschaffen, die für weitere Operationen benötigt wurden.
Erste Anlaufstelle in dem Visegrád-Land war in der Hauptstad Budapest die Széchényi-Nationalbibliothek für mich. Natürlich erst, wenn ich im Vorfeld alle nötigen Ausweise und sonstige Papiere erhalten hatte, sowie ein Wegwerfhandy für die sofortige Abgabe der gefundenen Belege. Offiziell sollte ich als ein tschechischer Student dort auftauchen, der eine Abhandlung über Ungarn schreiben wollte. Solch einen angefangenen Text sollte ich passender Weise dabei haben. In Arbeit, damit es glaubhaft blieb, Schwerpunkte wollte ich noch abklären, damit ich auch in den entsprechenden Abteilungen der Bibliothek suchen konnte, ohne dabei aufzufallen.
An sich schien es kein so gefährlicher Auftrag zu sein. Es wurden oft Savantoj aus anderen Ländern an solche Orte beordert, damit sie danach besser wieder untertauchen konnten, ohne Spuren zu hinterlassen.
Die Rückreise war dabei immer das Gefährlichste, weil es sein konnte, dass man doch aufgefallen war und eventuell beschattet wurde. Dann musste rasch reagiert werden und die Rückreise über andere Länder durchgeführt werden. Passierte nicht oft, konnte aber schon geschehen. Ich wollte mir jedoch im Vorfeld keine unnötigen Gedanken machen, dafür hatte ich einen anderen Notfall-Kontaktmann dort, den ich dann einschalten konnte.
Im Grunde war der Auftrag nicht so dringend, dass es auf einen Tag drauf ankam. Aber anstatt weiter hier herumzusitzen und auf Angelina zu warten, die doch nicht erscheinen würde, wollte ich lieber heute als morgen weg von hier und den Erinnerungen an sie.
Vielleicht würde ich mich danach besser im Griff haben. Ich wollte einfach nicht mehr über sie nachdenken, denn meine Gedanken liefen immer im Kreis. Also packte ich meinen Rucksack und beschloss etwa eine Woche später, am nächsten Tag ein letztes Mal zu Sophia und Gio zu gehen, um mich zu verabschieden.
Ich sah mich um, weil ich noch irgendetwas suchte, um Angelina etwas dazulassen von mir. Ich hasste mich dafür, dass sie immer noch in meinem Kopf herumspukte, aber ich gab mir selbst nach und suchte einfach weiter. Etwas, wie einen Schlusspunkt, der diese Farce beendete. Mir fiel ihr Tagebuch auf und ich war schon auf dem Weg zu ihrem Nachttisch, um es einzupacken, als mir etwas anderes einfiel.
Das Tagebuch konnte sie sich selbst holen oder von Gio mitbringen lassen, das ging mich nichts an.
Ich drehte ab zur Kommode und kramte aus einer der Schubladen ein kleines Kästchen hervor. Als ich es öffnete, sah ich das Herz aus Rosenquarz, was ich ihr mal besorgt hatte und zu einem besonderen Anlass schenken wollte. Weil sie Steine so liebte. Ja, die liebte sie.
Wieder stiegen mir die Tränen in die Augen, ich wurde wütend, weil ich es nicht verhindern konnte. Dann griff ich das rosa Herz mit dem winzigen Riss, stopfte es entschlossen in meine Hosentasche und warf das leere Kästchen auf das Bett.
Höchste Zeit, dass ich hier verschwand!
Der Abschiedsbesuch am nächsten Tag sollte kurz werden, ich wollte keine Zeit mehr verlieren.
Als ich eintraf, war von Angelina nichts zu sehen. Ich hoffte, sie auch nicht in der Küche anzutreffen, weil sie vielleicht lernte und ich hatte Glück. Nur Sophia und Gio waren dort beim Frühstück.
»Willst du schon los?«, begrüßte mich Gio überrascht. Sophia bot mir Kaffee an, aber ich lehnte dankend ab.
Ich gab zu, dass ich schnell weg wollte, bat Gio noch, im Bunker meinen EMail-Verkehr zu überwachen, damit er alle Informationen über meinen Auftrag erhielt, für alle Fälle.
Dann verabschiedete ich mich rasch. Beinahe vergaß ich den Stein, aber es fiel mir noch rechtzeitig ein. Gio versprach, ihn ihr später zu geben. Seinen besorgten Blick übersah ich geflissentlich. Ich wollte gerade nicht wissen, wie mein eigener aussah. Es war alles gesagt, ich nickte beiden nochmal zu und ging.
Schon beim Abbiegen in den Flur sah ich sie. Sie saß vor mir auf dem Boden an der Wand, in Tränen aufgelöst. Garantiert hatte sie jedes Wort gehört.
Ich erstarrte wie zu einer Salzsäule. Mit letzter Kraft zwang ich mich, sie nicht anzusehen und an ihr vorbei und hinaus zu gehen.
Raus - nur weg!
Es blieb still hinter mir und ich drehte mich auch nicht um.
Betäubt blendete ich alles aus und ging Schritt für Schritt weiter.
Bis mich jemand am Ärmel festhielt. SIE stellte sich mir in den Weg.
Verzweifelt suchte ich meinen Tunnelblick, panisch stellte ich fest, dass ich ihn nicht fand.
Nur tröpfchenweise gelang ihr Wortschwall in mein Bewusstsein. Ich kramte mühsam meinen letzten Wortschatz zusammen, um ihr eine einigermaßen sinnvolle Antwort zu geben.
Dabei suchte ich verzweifelt einen Punkt, den ich anstarren konnte, während ihre Stimme mit jedem Wort drängender klang. Dann drückte sie mir etwas in die Hand, aber bei mir kam nur ihre flehentliche Bitte an: »Bitte geh nicht weg.«
Alles sprang auf Abwehr in mir!
»Ich muss«, quetschte ich gequält hervor, aber meine Mauer bekam große Risse und ich zog sie wider besseren Wissens an mich und vergrub mein Gesicht in ihren duftenden Haaren, was ich besser nicht getan hätte.
Kia malsaĝulo mi estas, schoss es mir durch den Kopf. Was für ein Narr ich bin. Hatte ich wirklich geglaubt, dass ich mich einfach von ihr lossagen konnte?
Ich öffnete meine Hand an ihrem zitternden Rücken und sah sie - die goldene Schleife! Meine Mauer brach endgültig zusammen.
Ich musste sie küssen! Zögernd erst, dabei schmeckte ich ihre Tränen, die mich zusätzlich aufwühlten und ich wollte sie nicht mehr loslassen, nie wieder aufhören sie zu küssen bis sie ihren Kopf fast panisch zur Seite drehte und nach Luft schnappte.
Was ...? Erleichtert merkte ich, dass sie nur nach Atem rang und nahm sie auf meine Arme, ging dann mit ihr zurück zum Haus.
Sie war viel schwerer als ich sie in Erinnerung hatte, als ich sie so trug. Eine süße Last, trotzdem war sie leicht.
Oder lag es daran, dass mein Herz auf einmal so leicht wurde?
Nein, diesmal musste sie mir zuhören und nachgeben, denn sie würde nicht ihren Willen bekommen. Das sagte ich ihr noch auf dem Weg zum Haus.
»Ich mache dir jetzt ein Angebot. Eines, über das du gut nachdenken solltest, während ich weg bin. Entweder ändern wir jetzt diese Zeit der Trennung wieder, dafür würde ich mich als Studpartnero für dich zur Verfügung stellen ...« Sie verkrampfte augenblicklich, aber ich ließ mich nicht beirren und redete weiter. »Wir könnten wieder unter einem Dach leben und uns auf die Wandlung vorbereiten, bis du wirklich so weit bist. Ich werde nicht mit dir schlafen. Nicht heute.«
Ihre Anspannung blieb bestehen.
»Aber ich bin so weit - du hast von mir die goldene Schleife bekommen und wir könnten es endlich ...«
»Nein, es ist noch nicht der richtige Zeitpunkt da. Das wirst du noch merken, glaub mir, Angelina. Es ist gar nicht schlimm, noch zu warten - gemeinsam ist es überhaupt nicht schlimm.«
Ich spürte, wie sie den Kopf schüttelte, aber wir waren fast bei Sophia und Gio angelangt, darum ging ich auf ihre Gegenwehr nicht ein.
Ich gab uns in Gedanken ein paar Stunden, dann musste ich gehen. Fest entschlossen, diese kurze Zeit zu nutzen, bat ich Gio für mich eine Mail zu schicken, dass ich später eintreffen würde, trug Angelina nach oben in ihr Zimmer und legte sie aufs Bett.
Eine Mischung aus Glück, Angst, Neugier und Begehren tobte in mir, als ich begann, sie langsam auszuziehen, wie sie es von mir erwartete. In mir herrschte eine aufgeregte Spannung, wie sie sich verändert hatte, aber ich machte mir nichts vor. Noch war sie höchstens körperlich erwachsen, sie brauchte noch ein wenig Zeit, die ich ihr auch geben wollte. Selbst auf die Gefahr hin, dass sie das mal wieder nicht verstehen wollte.
Sie beobachtete mich schweigend, sagte kein Wort, aber sie erschauerte jedesmal, wenn ich ihre Haut berührte.
Mir kam alles so unwirklich vor, sie hatte sich wirklich wahnsinnig verändert.
Kein Kind mehr, was vor mir lag und mir grenzenlos vertraute, sodass ich niemals falsche Gedanken bekommen hätte.
Jetzt aber stürmten genau diese Gedanken in einer Welle auf mich zu, überschlugen sich in mir, forderten von mir, dass ich sie endlich annehmen durfte, als das, was uns die Bestimmung schon vor langer Zeit versprochen hatte.
Ich konnte meinem Körper bei diesem Anblick nicht mehr länger verbieten, entsprechend zu reagieren.
Gewaltsam brachte ich mir in Erinnerung, wie ich meine Beherrschung wieder erlangen konnte. Aber meine Hände hatte ich dabei nicht unter Kontrolle, sie konnten nicht anders, als sie zu streicheln und zu liebkosen, bis sie begann, sich vor mir zu winden und ihre Arme nach mir auszustrecken, sodass ich sie mitnahm in einen Gefühlssturm, der uns beide die Welt um uns vergessen ließ, als ich sie wieder und wieder küsste.
»Wir haben sehr wenig Zeit, Angelina«, versuchte ich sie zwischendurch einzufangen. »Nimm bitte mein Angebot an, dann kannst du nach Hause zurückkommen, sobald ich zurück bin. Dann können wir reden. Jetzt will ich nicht reden, nicht mehr als unbedingt nötig.« Ich wollte sie wieder küssen, aber sie wandte den Kopf ab, um mir zu widersprechen. Natürlich. Was auch sonst.
»Ich habe dir auch ein Angebot gemacht, Sandro. Zählt das gar nicht?« Wieder dieser Trotzkopf. Ein widerspenstiger Teeny im Körper einer Frau, ich stöhnte leise auf.
»Diesmal nicht. Du bist viel zu impulsiv und denkst nicht über alle Konsequenzen nach. Du BIST noch nicht erwachsen, auch wenn du so verflucht danach aussiehst, aber nein! Ich werde mich auf eine übereilte Wandlung nicht einlassen. Nicht jetzt und unter diesen Umständen schon gar nicht.«
Frustriert setzte ich mich auf und sah sie herausfordernd an. Konnte sie nicht endlich einsehen, dass es noch zu früh war? Für einen winzigen Moment überlegte ich, ob ich nicht doch besser sofort gehen sollte - trotz allem.
Sie musste gemerkt haben, dass ich nicht bereit war, nachzugeben. Ich atmete auf, als sie sich aufsetzte, zu mir krabbelte und mich umarmte.
»Wir werden sehen«, murmelte sie so leise, dass ich es kaum verstehen konnte.
Ich ahnte, was sie vorhatte.
Es würde ihr nicht gelingen.