Ich hatte mich so auf die rote Schleife gefreut, aber dann zeigte mir Sandro etwas, was mich förmlich aus der Bahn warf.
Gio hatte es mitgebracht. Ein sogenanntes Laptop - ein Computer für unterwegs und zu Hause, was ich nur aus der Theorie kannte, also eher große Anlagen für Behörden und so.
Ich hatte gar keine Zeit, mich näher damit zu beschäftigen, warum mir solche Geräte noch nicht bekannt waren. Nachdem ich wusste, was ich machen musste, um Informationen aus dem Ding herauszuholen, kam ich mir vor wie in einer echten Horrorgeschichte, die am Lagerfeuer erzählt wird.
Mord, Totschlag, Naturkatastrophen, Krieg, Hunger - überall.
Nachrichtensendungen übermittelten aus allen Ecken der Welt ein schreckliches Szenario nach dem nächsten. Ich musste mich manchmal abwenden oder die Augen schließen, weil ich es kaum ertragen konnte. Egal welche Seite ich aufrief, es gab keine guten oder normalen Nachrichten. Ich konnte es nicht fassen und starrte auf den Bildschirm, bis er erlosch.
Eine ganze Weile starrte ich noch regungslos weiter, bis ich merkte, dass mir die Tränen herunterliefen ohne dass ich sie stoppen konnte. Ich lief hinüber zu Sandro und ließ mich von ihm in die Arme nehmen und streicheln und wiegen, wie er es immer getan hatte, wenn ich Kummer hatte. Nur diesmal wollte es nicht helfen. Ich schlief ein, als ich ruhiger wurde, aber die Bilder, die ich gesehen hatte, stiegen in mir hoch wie dunkle Schattengestalten und ich wachte schnell wieder auf.
Sandro schlug vor, an den See zu gehen - ich stimmte zu, auch wenn ich nicht wusste, ob es etwas bringen würde. Ich griff nach seiner Hand, denn ich brauchte etwas, an dem ich mich festhalten konnte. Ich kam mir plötzlich wieder ganz klein vor und ich hatte Angst.
Wir redeten nicht viel unterwegs. Sandro hielt sich zurück und ich brachte gelegentlich eine Frage heraus, die mir gerade durch den Kopf schoss. Ohne Zusammenhänge stapelten sie sich vor mir, wie ein riesiger Berg, der drohte, mich unter sich zu begraben.
»Ist es überall so? Warum bekriegen sich die Menschen? Was ist die Ursache für solche Massaker? Sehen sie denn nicht, was sie damit anrichten? Wie kann man so leben wollen?«
Er sah betroffen aus, aber er antwortete mir dann doch. Sinngemäß, dass es Vieles gab, was schon immer so gewesen war. Kriege wurden seit Menschengedenken geführt, Reiche hatten schon immer das Sagen und der Mensch konnte nie genug bekommen - oder lebte von der Hand in den Mund. Hunger und Armut, Naturkatastrophen - alles das trug dazu bei, dass die Spirale immer weiter ging. Kein Ende in Sicht.
Ich war erschüttert, weil alles so hoffnungslos aussah, dass ich mich todunglücklich fühlte und mich fragte, wozu man eigentlich noch lebte, wenn doch alles so schrecklich war und immer schlimmer wurde.
Irgendwann schrie ich ihm das ins Gesicht, aber außer dass Sandro sehr betroffen reagierte, konnte ich daran ja auch nichts ändern. Ich fragte ihn, ob er mich absichtlich davon ferngehalten hatte, was auch stimmen musste. Er begründetet es damit, dass ich noch viel zu klein gewesen wäre - aber das ließ ich nicht gelten und dachte sofort an Marcella, die garantiert mehr darüber wusste als ich - schon aus der Schule. Wohl der Grund, warum ich auch dort nie hingedurft hatte.
Als ich ihm das vorwarf, verschob er das auf später. War mir egal. Aber abgestritten hat er die Verbindung nicht.
Ich musste erstmal runterkommen, dann setzte ich mich wieder zu ihm.
Ich merkte, dass ihn das Gespräch ebenfalls sehr mitnahm, aber ich hatte nicht vor, darauf Rücksicht zu nehmen. Das hätte er sich vorher denken können, dass ich das nicht so nebenbei abhaken konnte. Dabei war ich davon überzeugt, dass ich nur an der Oberfläche gekratzt hatte.
In zwei Stunden Nachrichten und Videos, konnte ich nicht jahrelange Recherche nachholen. Wie denn auch?
Erst wollte ich nie wieder an das Ding rangehen, dann überlegte ich laut, dass ich alles wissen wollte und die nächsten Tage so viel wie möglich sehen wollte. Ich war wild entschlossen, ihm zu zeigen, dass er mir jetzt nicht wieder etwas wegnehmen oder verheimlichen konnte.
Dann nahm das Gespräch eine Wendung, mit der ich nicht gerechnet hatte.
»Was wäre, wenn es doch noch Hoffnung gäbe? Wenn man vielleicht alles Negative wieder umkehren könnte?«
Er sagte noch mehr, aber ich war alarmiert. Er hatte eine Lösung für diese entsetzlichen Dinge? Wie sollte die wohl aussehen? Erst sah ich ihn zweifelnd an, aber dann ließ ich mich darauf ein.
Hoffnung konnte ich gut gebrauchen.
»Was meinst du? Was kann ich machen? Ausgerechnet ich?« Ich war skeptisch.
Dann setzte er zu Erklärungen an, die mich verblüfften und gleichzeitig das Gefühl gaben, ich könnte tatsächlich etwas tun. Jetzt Ab sofort.
Er erinnerte mich daran, wie oft wir schon Probleme lösen mussten in den vergangenen Jahren Und ich entsann mich, wie wir immer an jedes Problem herangegangen waren.
»Wir haben die Ursache gesucht! Wenn wir sie gefunden hatte, konnten wir an die Eleminierung denken. So einfach soll es sein? Warum ist dann noch niemand vor uns auf diese Idee gekommen?«
Völlig unerwartet traf mich dieses Lächeln auf seinem Gesicht, das ich jetzt und hier nicht erwartet hätte. Ich konnte seine abwechselnden Gefühlsschwankungen erkennen. Freude, Stolz, Liebe, Hoffnung.
»Ich wusste schon immer, dass du ein schlaues Mädchen bist, Angelina. Ja - warum ist niemand auf die Idee gekommen? Vielleicht weil es die richtigen Personen wollen müssten. Schon sehr lange. Aber es ist einfacher, das Problem einfach an die nächste Generation weiterzureichen, als selbst etwas zu tun. Nur - das ist bereits das nächste Problem. Wenn wir Erfolg haben wollen, müssen wir Schritt für Schritt den richtigen Weg gehen.«
Nachdenklich sah ich ihn an und versuchte, eine Ordnung in meine Gedanken zu bekommen. Ich konnte seinen Gedanken folgen, auch wenn ich darüber noch nachdenken musste. Wenn ich es richtig verstanden hatte, stand mir dafür genügend Zeit zur Verfügung. Die würde ich auch brauchen. Noch heute wollte ich weiter mit diesem Laptop arbeiten.
Eine Sache wollte ich aber trotzdem schon jetzt wissen, weil ich es nicht einschätzen konnte. Diesmal betraf es gar nicht gleich die ganze Welt, sondern nur mich.
»Was hat das alles mit der roten Schleife zu tun?«
Ich erschrak, als Sandro blass wurde.