Lange hielt ich es nicht aus, dann fuhr ich das erste Mal hin zu Gio.
Erst schien es so, als wenn es kaum Probleme gäbe, aber ich merkte schnell, dass Angelina mich nicht sehen wollte. Ich konnte sie sehen, als sie mit Maria und Francesco in ihrem Zimmer zusammen war. Es kam mir sehr harmonisch vor, aber als sie mir zufällig einen Blick zuwarf, erkannte ich sie nicht wieder.
Er kam mir beinahe feindselig vor.
Ich wollte nichts überbewerten, aber so, oder so ähnlich, lief es auch in den nächsten Wochen ab.
Sie ging mir aus dem Weg, wollte nicht mit mir reden und zeigte mir die kalte Schulter. Sie machte völlig zu und wenn ich am Anfang noch dachte, es wäre zufällig, dass sie sich mit Francesco beschäftigte, so wurde mir mit der Zeit klar, dass sie es tat, um mich herauszufordern. Es konnte nicht ihr Ernst sein!
Sie begriff nicht, dass ich nicht eifersüchtig war, sondern mich im Gegenteil über ihre neuen Erfahrungen freute.
Allmählich mochte ich sie nicht mehr sehen, jedenfalls nicht so, und ging ihr nun meinerseits aus dem Weg. Meist redete ich nur kurz mit Gio und verschwand dann wieder von der Bildfläche.
Vermutlich meinte sie nun, sie hätte mich mit ihrem Verhalten getroffen. Hatte sie auch, aber anders, als sie dachte und nicht in ihrem Sinne.
Ich war erschrocken, mehr entsetzt, wie viele von den Wesenszügen der Menschen bei ihr durchkamen. Je mehr ich entdeckte, desto enttäuschter war ich von ihr. Lieber wollte ich sie gar nicht mehr sehen, als so.
Es änderte sich nichts, auch nicht im nächsten Jahr und in dem folgenden. Ich sah sie kaum noch, erfuhr von Gio aber alles, was sie betraf, wenn wir uns trafen.
Sie musste bald wieder ordentlich lernen und Gio hatte nicht die Zeit, ihr das so anschaulich draußen zu vermitteln wie ich, sondern da mussten alle Kinder gleich intensiv den Lernstoff abarbeiten und er kontrollierte am Wochenende, wie die Fortschritte waren. Sie musste sich umstellen, es klappte aber wohl ganz gut. Wenn nicht, wusste ich, dass Gio rigoros dafür sorgte, dass statt Freizeitaktivitäten Unterrichtsstoff nachgeholt wurde am Wochenende. Bei drei Kindern plus den Studpartneros musste er notgedrungen auf diese strengen Methoden zurückgreifen.
Ich nahm seine Informationen über Angelina immer teilnahmsloser hin. Ernüchtert stellte ich fest, dass ich mir möglicherweise doch etwas vorgemacht hatte und es ein sinnloses Unterfangen war, Angelina zu einer Savanto zu wandeln. Es sah ganz so aus, als ob ich mit meiner - unserer - Bestimmung grandios gescheitert war.
Irgendwann in den Wochen nach ihrem Auszug war ich bei einem meiner einsamen Spaziergänge auf ihre kleine Hütte gestoßen. Als ich ihr Tagebuch fand, nahm ich es mit, nur um es vor dem Wetter zu schützen und es für sie aufzubewahren. Ich konnte mir denken, was es für Einträge dort waren.
Plötzlich sah ich wieder das kleine glückliche Mädchen vor mir, das sie mal gewesen war. Aber das war vorbei. Selbst wenn sie dort die schönen Erlebnisse niedergeschrieben hatte, die meiner Seele gutgetan hätten - ich las sie nicht. Erstens wäre es ein Vertrauensbruch gewesen, den ich trotz meiner Trauer niemals begehen würde, und zweitens hatten sich die Dinge so verändert, dass vermutlich kein einziges Wort mehr der Wahrheit entsprach. Ich schämte mich meiner Tränen nicht.
Obwohl mich allein die Berührung ihrer Gedanken in Form dieses Tagebuchs förmlich verbrannte, trug ich ihre Zeilen sorgsam ins Haus und legte sie auf ihren Nachttisch. Irgendwann nahm ich es nicht mehr wahr und dann vergaß ich es.
Es dauerte ganze zwei Jahre, bis sich bei Maria und Francesco ihr Studpartnero-Fest ankündigte. Ich nahm es nur am Rand mit, ich wollte mich nicht damit beschäftigen, aber Gio und seine Familie und sicher auch Angelina hatten damit gut zu tun. Denn dann war Francesco wieder weg, vermutlich war es längst geschehen, ich hatte nicht mal nachgefragt.
Ich kämpfte mit meinen eigenen Dämonen und merkte nicht mehr, dass ich mich selbst vernachlässigte.
Ich aß zu wenig, schlafen klappte auch nicht besonders, aber mir war es egal. Gio fiel es natürlich auf, er machte sich Sorgen und er versuchte mir gut zuzureden, aber seine Worte perlten an mir ab.
Ich zog mich immer mehr zurück, aber der Körper rächt sich, wenn man ihn nicht beachtet.
Als ich eines Tages zusammenbrach und mich davon nur mühsam erholte, beschloss ich endlich, mich wieder zusammenzunehmen. Gio hatte mich nur zufällig rechtzeitig gefunden und mir geholfen, aber er wurde stinksauer und machte mir klar, dass es so nicht weitergehen konnte - egal was mit Angelina nun werden würde. Es wurde höchste Zeit, wieder zur Vernunft zu kommen.
Um nicht wieder völlig in meinen Gedanken zu ertrinken, beschäftigte ich mich endlich wieder mit den Savantoj und den Zielen, die wir verfolgten, die Kuraci, die Heilung des Planten.
Ich musste dringend auf andere Gedanken kommen. Also ging ich die Aufgaben durch, die von Freiwilligen erledigt werden sollten. In unserem Bereich, meistens in Europa. In den letzten Wochen hatte ich regelmäßig gekocht und gegessen, Sport getrieben und mich mit den neuesten Zielen der Savantoj zu beschäftigen.
Im Bunker im Wald war es zu dieser Jahreszeit schon zu kalt, aber dafür lag er so gut versteckt, dass mich niemand finden konnte, außer Gio, der ihn ebenfalls gelegentlich nutzte.
Endlich hatte ich wieder einen Plan, wie es weitergehen sollte mit mir - ohne Angelina, die ich in die hinterste Ecke meines Herzens zu verdrängen suchte.
Gesucht waren im Moment Facharbeiter in unterschiedlichen Fabriken für Reparaturarbeiten, die im Vorfeld so gefaked wurden, damit man an entscheidender Stelle ein paar kleine Fehler einbauen konnte, die den eingebauten Sicherungen nicht auffallen und später für Ausfälle sorgen würde.
Die Fachrichtungen konnte ich nicht vorweisen, da mussten andere ran, wir waren ja breit aufgestellt.
In den Großstädten wurde immer Frauen gesucht, die sich für Begleitservice interessierten, Männer waren da nicht so oft gefragt.
Ganz neues Gebiet für die Reichen und Schönen: Alles, was mit Wellness zu tun hatte. So konnte man sehr leicht an wichtige Personen herankommen. Ich hatte schon beschlossen, dass ich mir da mal eine Grundausbildung gönnen würde, schaden konnte es ja nicht.
Im Moment kam es noch nicht in Frage.
Letztendlich schaute ich mir dann aber eine indirekte Aufgabe an, die mehr mit Unterstützung der Savantoj Vorort gedacht war. Gesucht waren Savantoj für aufwendige Recherchearbeiten, fast detektivischer Art, was genau musste ich noch herausfinden.
Da es in Ungarn war, müsste ich mich erst nochmal mit der Sprache beschäftigen und sie auffrischen, außerdem meine Kontaktpersonen herausfinden und die genaue Aufgabenstellung.
Ich schickte zunächst eine Interessensbekundung weg und bat um mehr Informationen. Dann machte ich die Computer aus.
Gio wollte noch vorbeischauen, das sollte ich nicht verpassen und ihn auch nicht unnötig warten lassen.
Nachdem ich wieder im Haus war, dauerte es auch nicht lange und er kam um die Ecke - natürlich ohne Angelina, auch wenn es ihr immer wieder angeboten worden war. Ich hatte auch nicht mehr wirklich mit ihr gerechnet.
Womit ich auch nicht gerechnet hatte, waren die Neuigkeiten.
Angelina hatte sich entschieden. Richtig entschieden meiner Meinung nach, für die Savantoj. Aber zu mir fand sie immer noch nicht. Sollte ich mich nun freuen, oder endlich aufgeben?
Als ich in mich hineinhorchte war da so gar nichts, außer Leere.
Dann erzählte ich Gio von meinen Plänen, einen Auftrag zu erledigen. Er versprach, sich weiter um alles zu kümmern.
Gut.
Gut?