Ich wusste plötzlich nicht mehr, was ich dazu sagen sollte.
Mir fehlten einfach die Worte. Womit konnte ich sie ablenken von dem Thema? Durfte ich ich sie wieder nur vertrösten, weil es mir nicht ins Konzept passte? Das schlechte Gewissen nagte an mir, nein, es riss mir ganze Stücken aus meinem Fleisch. Ich wusste nicht, wie ich aus der Nummer herauskommen sollte, also blieb ich, soweit es ging, bei der Wahrheit.
»Ich ... du bist jetzt alt genug. Ich meine, ich kann dir jetzt zumuten, dass du größere Zusammenhänge erkennst, damit du deine eigenen Schlüsse ziehen kannst. Darum will ich dir jetzt alles geben, was du dafür brauchst. Die rote Schleife bedeutet nur, dass du langsam erwachsen wirst.«
Ich musste schlucken, als ich es so lapidar aussprach. An dieser einfachen Aussage hing soviel mehr. Was bedeutete erwachsen werden für sie? Ich musste es unbedingt versuchen, noch besser zu erklären.
»Du wirst es schon bemerkt haben, oder etwa nicht? Dein Körper verändert sich. Du bekommst weibliche Brüste, deine Figur bekommt neue Rundungen und das wird jetzt so weitergehen, bis du eine erwachsene Frau bist. Damit musst du dich ebenfalls auseinandersetzen. Jetzt. Das kannst du nicht verschieben, weil es jetzt passiert. Jeden Tag ein wenig mehr. Das ist für dich persönlich ein großer Entwicklungsschritt. Die Kindheit ist vorbei, du kommst auf einen neuen Weg, den du erkunden musst. Das wird aufregend und schön, aber auch anstrengend und es wird viele Fragen aufwerfen. Fragen, die ich dir vielleicht nicht beantworten kann. Aus Gründen, die ich dir erst später geben kann. Ich weiß ...«
Als sie protestieren wollte, hob ich abwehrend die Hände.
»Du willst keine Geheimnisse mehr. Das verstehe ich voll und ganz. Aber wenn du ehrlich bist, hast auch du deine kleinen Geheimnisse vor mir und ich habe das immer akzeptiert.«
Ich schaute sie an und sah sofort, dass sie den Blick abwandte. Richtig getippt. Alles andere hätte mich auch verwundert, es war total in Ordnung.
»Ich will dir die Möglichkeit geben, dass du alles, was ich dir in den nächsten Wochen sagen muss, für dich selbst bewertest. Es ist lebenswichtig, vergiss das bitte nicht, dass du mir jetzt vertraust und daran glaubst, dass ich immer nur das Beste für dich wollte und will. Trotzdem will ich, dass DU entscheidest, was es zu entscheiden gibt. Es wäre so einfach für mich, dir das einzureden, was ich für richtig halte. Das will ich aber nicht. Ich halte es für falsch. Ich habe dir in den letzten Jahren alles beigebracht, was ich zur Verfügung hatte. Wir haben alle deine Fragen so lange diskutiert, bis du zufrieden warst mit dem Ergebnis. Nicht immer waren wir einer Meinung, das müssen wir auch nicht.«
Ich merkte, dass sie meine Worte aufsog und sie versuchte, alles zu begreifen. Hoffentlich würde sie sich an diese Worte erinnern, wenn sie ihre Zweifel bekam, wenn sie allein war und weinte und verwirrt war.
Es war unendlich schwer, sie jetzt so loszulassen, ins kalte Wasser zu werfen und darauf zu vertrauen, dass die Vorbereitung auf diese Zeit ausgereicht hatte.
Als sie den Blick hob, schwammen ihre Augen in Tränen. Ich legte den Arm um sie und zog sie an mich, versuchte ihr den Trost zu geben, den sie gerade brauchte und befürchtete gleichzeitig, dass es nicht annähernd ausreichte.
»Warum ist es so schlimm, dass ich erwachsen werde? Das war doch klar. Ich kann ja nicht für immer klein bleiben?« Sie grinste mich schief an, aber sie konnte ihre Angst nicht völlig vor mir verbergen, doch ich spielte mit und lachte.
»Nein, das kannst du nicht. Ich freue mich auch auf die erwachsene Angelina - mehr als du jetzt glaubst. Bisher habe ich dich halbwegs getragen durch die Zeit, aber jetzt musst du lernen, allein zu laufen. Du darfst mich immer noch nach dem Weg fragen und ich werde dir eine Antwort geben. Es wird nur jetzt öfter der Fall sein, dass du an einer Weggabelung stehst und ich dir nur sagen kann, wo die einzelnen Wege hinführen. Mehr nicht. Deine Ziele musst du selbst finden und festlegen. Ich muss mich dann danach richten, ob ich will oder nicht. Es ist dein Leben, deine Entscheidungen. Du musst entscheiden. Es ist nicht immer einfach, erwachsen zu sein, also kann auch der Weg dorthin nicht nur schön sein. Aber er hat auf jeden Fall auch schöne Seiten und ich möchte, dass du sie dir alle in Ruhe ansiehst.«
»Wenn ich sie mir, wie du sagst, alle angesehen habe, was passiert dann? Bist du dann immer noch für mich da?«
Ihre Stimme verlor sich fast, als sie das zaghaft fragte, es zerriss mir das Herz.
»Ich verspreche dir, wenn du es willst, werde ich immer für dich da sein. Ich habe dich vom ersten Tag an geliebt und werde das auch in Zukunft - egal was du tust.«
Ich meinte es genauso wie ich es gesagt hatte. Trotzdem hatte ich das Gefühl, ich könnte mein eigenes Todesurteil unterzeichnet haben. Nie war ich mir so bewusst geworden, dass sie mein Leben in ihren Händen hielt. Trotz meiner Angst, vertraute ich auf sie und die Gefahr war mir egal.
Wenn ich in dem Moment gewusst hätte, was mich noch alles erwartet, wäre ich vermutlich einfach weggelaufen.
Nur - vor der Bestimmung konnte man nicht einfach weglaufen.
Aber durchaus scheitern.
Sie gab sich vorerst zufrieden mit meiner Antwort. Noch war es das Wichtigste, dass ich sie liebhatte, aber wie lange würde das reichen?
Wir kehrten zurück und von da ab arbeitet sie wochenlang daran, die Ursache für die Misere herauszufinden. Ich wollte unbedingt, dass sie allein darauf kam, denn alles andere konnte mir sonst wieder auf die Füße fallen. Es tat mir ein wenig leid, dass sie nicht so schnell darauf kam, weil sie ziemlich erschöpft wirkte, aber ihre Energie war bewundernswert.
Letztendlich war es Gio, der ihr einen winzigen Hinweis gab, den sie dankbar annahm und schon kurze Zeit später dann tatsächlich fündig wurde.
Nun lag der Ball wieder bei mir.