Ich rannte und rannte bis ich nicht mehr konnte, dann ließ ich mich einfach fallen und keuchte, versuchte wieder zu Atem zu kommen.
Ich spürte seit Sandros grausamen Eröffnung diesen Schmerz in meiner Brust, ich bezog es auf das Baby und meine Trauer und der unglaublichen Mitteilung, dass Sandro die Katastrophe hätte verhindern können. Ich konnte es nicht fassen - wie konnte das möglich sein? Wie konnte er nur? Das war so unfassbar, Sandro war doch so kinderlieb - und dann sein eigenes Kind? Ich schüttelte immer wieder fassungslos den Kopf und weinte. Dann lief ich irgendwann wieder los.
Sophia fand mich wirklich am See, denn natürlich war ich letztendlich dorthin gegangen und sie wusste, dass es mir sehr schlecht ging. Ich machte mir keine Vorstellung davon, wie ich in der Zwischenzeit aussehen musste, aber ich konnte es nach einem Blick in ihre Augen erahnen. Ich musste stundenlang durch den Wald geirrt sein.
Erschrocken ergriff sie meinen Arm und zog mich hoch.
Sie zog mich an sich und legte ihre Arme um mich und ich ließ meinen Kopf an ihre Schulter sinken. »Angelina.«
»Du bist blindlings fortgelaufen. Das war dumm und gefährlich, Angelina.«, sagte sie dann leise zu mir.
»Ich ... ich habe mein Kind verloren! Das kann ich ihm nicht verzeihen. Er muss es gewusst haben und hat nichts gesagt, mich nicht gewarnt. Er hätte es verhindern können, er hat es gesagt. Wie hätte ich bei ihm bleiben können?«
Unablässig rannen die Tränen aus meinen Augen, vermischten sich mit dem fallenden Regen, aber mir war alles egal. Ich spürte nur diese endlose Leere in mir, die mich von innen heraus aufzufressen schien.
»Ich weiß.« Sie fuhr mit den Händen über meinen Rücken, es erinnerte mich sofort an Sandro und ich schluchzte auf.
»Trotzdem. Ich sage dir, du irrst, wenn du denkst, du hast dein Kind verloren. Ich werde es dir nicht erklären, denn es ist nicht meine Aufgabe. Das muss er tun. Wenn ihr es noch rechtzeitig schafft und er noch mit dir reden kann. Du bist von Trauer geblendet, das kann ich verstehen. Aber du musst sofort zu ihm zurück, ihn und dich retten, sonst ist für euch alles verloren! Ich versuche, dir jetzt von meiner Energie abzugeben, damit du den Weg schnell nach Hause zurückschaffst. Ich möchte nicht wissen, in welchem Zustand er sich jetzt schon befindet. Hoffen wir, dass du es rechtzeitig schaffst und er dir verzeiht. Er hat es nicht verdient, Angelina! Reicht nicht ein Leben, dass verloren geht? Willst du das zweite auf dem Gewissen haben?«
Ihre Worte fühlten sich an wie Messer in offenen Wunden, aber sie ließ mir keine Zeit, sie zu verarbeiten. Sie griff mit beiden Händen um mein Gesicht und legte ihre Stirn an meine. Augenblicklich durchströmte mich eine Wärme und Kraft, sodass ich regelrecht aufatmete.
»Lauf! Sieh zu, dass du ihm seinen Lebenswillen wiedergibst. Es liegt allein an dir, es abzuwenden.«
Dann setzte die Angst ein.
Panik traf es besser, denn ich hatte vergessen, dass ich Sandros Leben in Gefahr gebracht hatte. Diese neue Erkenntnis verlieh meinen Füßen Flügel. Entschlossen wischte ich mir die Tränen weg und rannte los. Den Weg kannte ich in- und auswendig, ich hatte ihn mit Sandro unzählige Male durchwandert. Heute hatte ich allerdings keinen Blick für die Schönheit der Natur. Eine eiserne Klammer hatte sich um meine Herzen gelegt und drohte, sie zu zerquetschen. Wie lange war ich weg gewesen? Wie viele Stunden von ihm fort? Ich hatte nur verschwommene Erinnerungen, die mir jetzt nicht weiterhalfen. Unbeirrt lief ich in Richtung unseres Hauses, die Zeit verrann und ich hatte das Gefühl, dass es ewig dauerte, bis das kleine Gebäude endlich in Sicht kam.
Die Tür stand offen.
Ich stockte und wartete unschlüssig vor der Tür.
»Sandro?«
Stille.
Dann betrat ich das Haus. Der Regen hatte sich durch die offene Tür Einlass verschafft und den Bereich an der Haustür in einen kleinen See verwandelt, in den ich trat, ohne mich darum zu kümmern.
War Sandro auch fort? Hatte Sophia nicht gesagt, er wäre zu Hause? Wie sollte ich ihn finden und retten, wenn er nicht hier war?
Meine Augen suchten den Raum ab, dann setzte ich mich wieder in Bewegung und lief ins Schlafzimmer.
Da lag er.
Zusammengerollt auf seiner Seite und rührte sich nicht.
Mein Herz stockte, ich rannte auf ihn zu, griff nach seinem Arm und rüttelte sacht daran, aber er reagierte nicht. Panisch überprüfte ich, ob er noch atmete, das tat er, wenn auch schwach.
Was sollte ich bloß tun?
Ich zog die Decke über ihn und legte mich daneben, um ihn zu wärmen. Ich schlang meine Arme um ihn, aber er rührte sich nicht. Lag er im Koma?
Zaghaft strich ich ihm eine Locke aus dem Gesicht, die gleich wieder zurücksprang - keine Reaktion. Es wurde ein wenig wärmer unter der Decke, aber er verströmte noch immer eine ungesunde Kälte, die mich zittern ließ. Ich begann ihn zu streicheln, wie er es so oft mit mir getan hatte und sprach leise auf ihn ein, dass er bitte aufwachen solle.
»Rede mit mir, Sandro. Vergib mir, dass ich fortgelaufen bin. Bitte. Komm zu mir zurück. Ich will nicht ohne dich sein. Ich liebe dich so sehr.«
Er zuckte nicht mal mit der Wimper. Mir fiel nichts mehr ein, als dass ich ihn auf den Rücken drehte und mich dann an ihn schmiegte und einen Arm und ein Bein über ihn legte.
War das das Ende?
Dann weinte ich nur noch bittere Tränen.
Irgendwann schlief ich erschöpft ein.
Gio wartet draußen, aber ich hatte ihn gar nicht wahrgenommen. Als Sophia wieder bei ihm war, umarmten sich beide und liefen unruhig im Garten umher, trotz des Nieselregens, bis sie schließlich zurück ins Wohnzimmer gingen und sich mit einer Decke auf dem Sofa einkuschelten.
Nun konnten sie nichts mehr tun, außer Warten und Hoffen.
Ich erwachte, als ich eine Hand an meinem Gesicht verspürte. Verschlafen hob ich den Kopf und sah geradewegs in Sandros Augen. Er schaute mich still an, lächelnd.
»Das war sehr knapp, Engelchen.«
»Sandro! Ich ... ich wollte nicht ... Verzeih mir.« Ich klammerte mich an ihm fest und wollte ihn nicht mehr loslassen. Nie mehr.
Die blöden Tränen liefen schon wieder los.
Erst als er mich ganz sanft küsste, konnte ich mich etwas beruhigen.
»Sandro?«, fragte ich zaghaft.
»Ja?«
»Sophia meinte vorhin zu mir, es wäre gar nicht mein Kind gewesen und das würdest du mir erklären ...?"
Er seufzte leise auf.
»Als du nach der Wandlung endlich aufgewacht bist, habe ich alles andere völlig verdrängt. Ich war nur überglücklich, dass wir zueinandergefunden hatten und wir eine gemeinsame Zukunft haben würden. Später haben wir die Schwangerschaft bemerkt und du warst so unsagbar glücklich darüber, dass ich den Gedanken, dass irgendwas schiefgehen könnte, einfach beiseite geschoben habe. Schließlich kommt die Schwangerschaft zu diesem Zeitpunkt ausgesprochen selten vor - und die Komplikation damit noch viel seltener. Ich WOLLTE selbst daran glauben, dass alles gut geht. Das war mein Fehler. Es tut mir unendlich leid, dass du so gelitten hast.«
»Aber sie sagte, es wäre nicht mein Kind ...?«
»Die Wandlung. Das war der Grund. Nicht alle Zellen in deinem Körper haben sich zur selben Zeit gewandelt. Es war Zufall, dass du gerade deine Empfängniszeit hattest, daran haben wir im Vorfeld beide nicht gedacht - und dazu unser erstes Beisammensein stattfand. Leider haben sich meine Spermien eine Eizelle zur Befruchtung ausgesucht, die noch nicht gewandelt war. Bedeutet - meine Spermien trafen auf eine menschliche Eizelle und haben diese befruchtet. Sie konnte sich nicht mehr wandeln und deswegen nicht überleben. Aber es war gar nicht mehr deine Eizelle, die sich in deiner Gebärmutter eingenistet hat, es war Maries Eizelle. Und Marie gab es da schon nicht mehr. Marie ist Vergangenheit. Hier ist nur noch Angelina. Für mich, für uns und unsere Kinder.«
Er strich sanft über meinen Arm und wartete ab.
»Maries Baby - und deines. Trotzdem hat es in mir gelebt, Sandro.«
»Deswegen war es auch dein Baby. Es war unser Baby und es lebt nicht mehr, damit müssen wir uns abfinden, auch wenn wir es nicht vergessen werden. Nur jetzt sollten wir wieder in die Zukunft schauen, denn wir hatten keine Chance, ihm zu helfen.«
Ich schluckte, nickte dann aber.
»Sophia, Gio«, rief Sandro laut, während er mich an sich drückte.
Ein Rumoren im Wohnzimmer, dann schauten die beiden Gerufenen vorsichtig und ungläubig lachend um die Ecke. Gio ging auf die Seite von Sandro, Sophia tätschelte gleich meinen Arm von der anderen Seite. Gio wuschelte Sandro aufatmend durch seine Haare.
»Ich dachte, das wird nichts mehr, Junge. Da wird wohl noch ein ernstes Gespräch nötig sein. Das macht ihr bitte nicht noch einmal.«
»Bestimmt nicht, Gio. Das war sehr eindrücklich. Das passiert uns nie wieder. Oder, Angelina?«
Ich schüttelte den Kopf und versteckte mich mit dem Gesicht in Sandros Halsbeuge. Reden konnte ich gerade nicht.
ENDE
ENDE? --->