Ich konnte mich nicht überwinden, es offen zuzugeben.
Seitdem Maria und Francesco weg waren hatte es nicht lange gedauert, bis es mir so klar war, dass ich Angst vor meiner eigenen Entscheidung bekam. Es war mir schon schwer genug gefallen, es mir selbst gegenüber zuzugeben, dass ich mich für die Savantoj entschieden hatte, auch wenn es meinen Tod bedeuten konnte.
Merkwürdigerweise machte es mir nicht so viel Angst, wie ich gedacht hatte. Sophia hatte das alles richtig erkannt.
Etwas anderes machte mir aber trotzdem so richtig Angst.
Sandro, oder besser, meine Gefühle für ihn.
Nach diesen vielen Monaten, in denen ich ihn immer wieder verletzt und abgewiesen hatte, konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass er mich noch lieben konnte. Schon seit Wochen vermied ich es, in seine Nähe zu kommen, auch wenn es nicht mehr allzuoft vorkam, dass er bei Gio aufkreuzte. Ich konnte mir nicht Mal mehr allein im Bett Befreiung verschaffen. Selbst wenn ich mir intensiv Sandros Hände auf mir oder seinen zärtlichen Blick dabei vorstellte. Die richtige Stimmung wollte nicht aufkommen, ich verzehrte mich vor Sehnsucht und es nahm jeden Tag an Intensität zu.
Nachdem er so gar nicht auf meine Versuche reagiert hatte, keine Eifersucht oder Wut gezeigt, bemerkte ich nur, dass er immer seltener zu Besuch kam. Erst dachte ich, er wäre doch deswegen sauer, aber irgendwann merkte ich, dass ich mich einfach nur albern benahm - und verletzend. Er hatte mich bis auf die Ausquartierung immer lieb und anständig behandelt. Zählte das nun gar nicht mehr? War es richtig, dass ich so überreagierte?
Wenn ich ihn immer noch so vermisste, konnte es so nicht weitergehen.
Aber plötzlich hatte ich gar keine Chance mehr zur Aussöhnung, er kam nicht mehr, oder wenn, beachtete er mich nicht. Ich traute mich in der Zwischenzeit auch nicht mehr, auf ihn zuzugehen, schon gar nicht mit Gio zu ihm zu fahren. Wie sollte ich ihm auch nur irgendwas davon erklären?
Dieser eine Satz, den mir Sandro in seiner Wut an den Kopf geworfen hatte, geisterte nun ständig durch mein Hirn. Ich war fast davon überzeugt, dass ich ihn sogar im Schlaf vor mich hinmurmelte.
»Wenn du mir keine gelbe Schleife übergibst, hast du von meiner Seite aus nichts zu befürchten.«
Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen, weil ich nicht mehr wusste, was ich jetzt tun sollte - was ich noch tun konnte.
Fühlte ich mich schon bereit, mein Alter festzulegen? Oder konnte ich es nur nicht länger abwarten, Sandro wiederzusehen, auch wenn es bedeutete, dass ich ihm Abbitte leisten musste? Meine Entscheidung für eine Wandlung nahmen Sophia und Gio mit großer Freude zur Kenntnis. Es hing eben immer noch in der Luft, wie das zu bewerkstelligen war, also mit wem. Ob Sandro meine Entscheidung kannte? Ich wollte es lieber nicht wissen, verschaffte es mir doch vermeintlich etwas mehr Zeit.
Je älter ich geworden war, desto weniger konnte ich mich selbst und mein herzloses Verhalten verstehen. In diesen letzten Monaten hatte ich so viel gelernt - und endlich auch eingesehen, sodass ich mich nun schämte dafür, was ich ihm zugemutet hatte.
Ja sicher, ich war auch verletzt gewesen, weil er mich weggeschickt hatte. Nur wir hätten wenigstens darüber reden sollen! Wir hätten uns unsere Gedanken mitteilen sollen, wer weiß, ob es alles so schlimm geworden wäre, wie es sich nun entwickelt hatte.
Ich grübelte bestimmt noch vier Monate darüber nach, was ich jetzt tun wollte, als mir die Entscheidung an einem Tag brutal abgenommen wurde.
Ich ahnte nichts davon, aber plötzlich war Sandro da. Er war in der Küche und sprach mit Gio und Sophia, ich hörte ihn reden, als ich in den Flur kam und blieb schlagartig stehen, konnte mich nicht mehr rühren.
Ich wollte nicht lauschen, aber ich traute mich auch nicht, einfach hineinzugehen. Also blieb ich stehen und hörte zu.
»Ich habe keine Hoffnung mehr, Gio. Ich muss es akzeptieren und mich auf etwas konzentrieren, was einen Sinn hat. Ich bin fast wahnsinnig geworden, du weißt, wie schlimm es war, aber nun habe ich - weil sie es offensichtlich nicht kann - eine Entscheidung getroffen. Ich muss hier weg.« Hier machte er eine kurze Pause, dann sprach er weiter. »Ach, mir fällt noch was ein zu dem Menschenmädchen ... ich habe da noch was für sie.«
Ich konnte es nicht fassen - er sprach noch nicht mal mehr meinen Namen aus. "Menschenmädchen" nannte er mich nun nur noch. Lautlos rannnen mir die Tränen aus den Augen.
»Es gab eine Zeit, da wollte ich wissen, was sie liebt. um ihr eine Freude zu machen. Solche Steine gehörten dazu, darum habe ich ihr diesen Rosenquarz besorgt. Ich hätte nie gedacht, dass dieser winzige Riss in diesem Herzen schon ein böses Omen war. Ich möchte es nicht mehr bei mir haben. Vielleicht will sie ja irgendwann noch ein Andenken an unsere gemeinsame Zeit mitnehmen. Wenn nicht, wirf es weg. Es hat keine Bedeutung mehr für mich. Danke für alles, meine Freunde - ich bin dann auch schon weg. Wenn alles gut geht, sehr ihr mich in ungefähr drei Monaten wieder. Wenn nicht ... habe ich wenigstens noch etwas Sinnvolles getan, außer an unerfüllten Wunschträumen festzuhalten.«
Ich war an der Wand heruntergerutscht und hörte, wie er in den Flur trat und stockte, als er mich bemerkte. Ich wischte die Tränen fort. Aber er sah mich nicht an. Er starrte die Wand neben mir an und sagte kein Wort. Sein Blick machte mir Angst, er war dunkel und leer. Ohne ein Wort zu verlieren ging er an mir vorbei und hinaus, ich konnte keinen Ton herausbringen.
Gio und Sophia kamen in den Flur, sahen mich da sitzen und Gio zog mich hoch, um mich in den Arm zu nehmen, weil ich nur noch schluchzen konnte.
Ich lehnte mich verzweifelt an ihn, er öffnete seine vorher geschlossene Hand und hielt mir den Stein hin, den Sandro ihm gegeben hatte.
Ich blinzelte wegen der Tränen.
Ein zart rosafarbenes Herz lag auf seiner Hand. Es hatte einen fast unscheinbaren Riss in der Mitte, aber war ansonsten makellos und wunderschön.
Ich griff danach, schloss meine Hand darum und endlich, endlich konnte ich laufen. Obwohl ich ihn gar nicht mehr sehen konnte, rannte ich Sandro hinterher, tränenblind und mit einer Angst im Herzen, die mir Flügel verlieh.
»Sandro, warte bitte. Sandro! Ich muss dir noch was sagen, bitte bleib stehen.«
Ich konnte froh sein, dass er nicht zu schnell lief, sonst hätte ich ihn bestimmt nicht mehr eingeholt, aber ich schaffte es und zog ihn am Ärmel, damit er endlich stehenblieb. Außer Atem stellte ich mich ihm in den Weg.
»Ich ... bitte Sandro, es tut mir so leid. Ich hätte mich nicht so verhalten dürfen. Bitte verzeih mir und bitte, bitte bleib hier. Geh nicht weg.«
Ich hielt ihn immer noch am Ärmel fest, während er mich anstarrte, als wenn ich von einem anderen Stern käme.
Dann schüttelte er den Kopf. Ich suchte in seinem Blick ein Anzeichen von Leben. Nichts. Es schien, als wenn er von ganz weit weg käme.
»Ich kann nicht mehr absagen. Es ist ... erfreulich, dass du scheinbar zur Besinnung gekommen bist. Nur ändert es nichts an meiner Entscheidung. Ich habe eine Verpflichtung übernommen. Das werde ich auf jeden Fall einhalten. Ich kann dir anbieten, dass wir uns nach meiner Rückkehr nochmal unterhalten. Über alles, was dich bewegt. Ich stehe zu meinem Wort, dass ich immer noch für dich da bin, wenn du das willst.«
»Nein, nein bitte nicht. Sandro ...«
Ich wollte es nicht glauben, griff nun nach seiner Hand.
»Aber ich brauche dich doch jetzt! Mit meiner Entscheidung für die Wandlung ... und ich wollte dir schon längst meine goldene Schleife geben - du kannst doch jetzt nicht gehen!«
Wieder liefen mir die Tränen über mein Gesicht und ich kramte die Schleife aus meiner Hosentasche und drückte sie ihm verzweifelt in seine Hand, klammerte mich an ihm fest, bis er endlich nachgab und mich in die Arme schloss, viel zu fest drückte er mich an sich, aber ich war über jede Berührung froh. Fassungslos lehnte ich mich an ihn, zitterte und verbarg mein Gesicht an seiner Brust. Es war so lange her, dass er mir beruhigend über den Rücken gestrichen hatte, aber heute wollte sich die Beruhigung nicht einstellen, weil ich Angst hatte.
Angst davor, dass ich ihn nicht zurückhalten konnte, mich zu verlassen.
»Geh nicht weg«, flüsterte ich erstickt.
»Ich muss«, kam es gequält zurück.
Ich nahm all meinen Mut zusammen.
»Aber nicht bevor du mich gewandelt hast. Ich lasse dich vorher nicht gehen, Sandro!« Nun setzte ich alles auf eine Karte.
Egal, was danach kam.
Egal ob ich ihn jemals wiedersehen würde.
Egal - egal.
Er stöhnte so tief auf, dass ich zusammenzuckte, dann verbarg er sein Gesicht in meinen Haaren, schmiegte sich an meinen Hals und ich konnte spüren, wie er mit sich kämpfte. Als den Kopf wieder hob, wusste ich, dass er eine Entscheidung getroffen hatte. Ich merkte es sofort, weil er mich so fest an sich zog, dass mir die Luft wegblieb. Auch das war mir egal.
Ich hob den Kopf und sah ihm in sein Gesicht, sein Blick erzeugte bei mir eine Gänsehaut über den ganzen Körper, denn ich sah sie endlich wieder, diese Zärtlichkeit, nach der ich mich so gesehnt hatte!
Diesmal gepaart mit etwas anderem, was mich erschauern ließ. Er leistete keinen Widerstand mehr gegen sein Begehren - er wollte mich! Ich sah es, bevor er mich nun zum ersten Mal küsste. Wenn er mich nicht festgehalten hätte, ich wäre auf den Boden gesunken, weil meine Beine nachgaben, als bestünden sie aus Wackelpudding.
Der Kuss, so sanft begonnen, wurde leidenschaftlicher, wild und ungestüm, bis ich mich zu befreien versuchte, um mir Luft zu verschaffen. Ich drehte den Kopf, erhaschte seinen ungläubigen Blick, dass ich ihn bremste, aber dann merkte er warum und hob mich sofort ohne weitere Erklärungen hoch auf seine Arme. während er schon mit mir den Rückweg antrat.
»Stimmt, atmen solltest du trotzdem noch«, gab er heiser von sich und er schaffte es wirklich, dabei ein wenig zu grinsen.
Ich ließ mich einfach fallen. Gab mich dem Aufruhr in meinem Körper hin und schmiegte mich an ihn, auch wenn mir ein wenig mulmig war, über diese rasend schnelle Entwicklung. Ich war aufgeregt, erregt und voller Vertrauen. Endlich war er wieder bei mir. Jetzt würde alles gut werden!
Dann kam der Satz, den ich nicht hören wollte.