- Start: 15.06.2020 - 00:07 Uhr
- Ende: 15.06.2020 - 00:29 Uhr
"Ich wünschte, du würdest einmal etwas ernst nehmen!", schimpfte seine Mutter.
Jack trottete zwei Schritte vor ihr die Promenade entlang. Es war zu heiß, die Luft drückend warm, obwohl die Sonne endlich unterging. Der Himmel war rötlich und wolkenleer.
"Hörst du mir zu?"
"Hm."
"Hast du dich inzwischen beworben?"
Fast sofort verkrampfte sich sein Magen. Als wäre er konditioniert.
"Ja."
Er hätte wissen sollen, dass der 'Spaziergang' nur wieder hierauf hinauslaufen würde.
"Wirklich? Wo? Wie oft?"
"Beim Buchladen."
"Und ...?"
"Ich ..." Er suchte eine Ausrede. "Hab was im Auge."
"Weißt du, wie das später auf dem Lebenslauf aussieht? Monatelang nichts getan nach der Schule! Such dir eine Uni. Oder einen Job. Was auch immer du willst, aber mach was."
Jack trat einen Stein weg. Seine Haut brannte von der Berührung der untergehenden Sonne. Seine Gedanken kreisten um Kampftaktiken für Overwatch.
"Du kannst nicht ewig bei uns wohnen bleiben. Du musst Geld verdienen. Und auf eigenen Beinen stehen. Jack, hörst du mir zu?"
"Ja."
"Und? Wann willst du damit mal anfangen? Du musst auch mal - Jack!"
Er kletterte auf das Geländer, das den Gehweg vom steil abfallenden Flussufer abtrennte. Mit ausgestreckten Armen balancierte er weiter.
"Jack, komm sofort da runter!" Seine Mutter rannte ihm hinterher. Jack beschleunigte seine Schritte.
Rennen. Einfach rennen und der elenden Verantwortung entgehen. Was konnte er dafür, dass die Welt keinen Platz für ihn kannte? Es gab nichts, was er tun wollte. Er hatte keine Ziele, keine Träume. Er wusste nur, dass ihm jede mögliche Zukunftsentscheidung wie ein Strick vorkam, der sich um seinen Hals zuzog.
Arbeit? Sich abrackern für die Ziele eines Anderen, tagein, tagaus auf Schlaf und Freizeit verzichten, um eintönige Arbeiten zu verrichten.
Studieren? Das war wie Schule, nur anstrengender und es kostete Geld, das er nicht hatte.
Eine Ausbildung? Harte Arbeit, Schmerzen, Dreck und miese Bezahlung, außerdem würden alle auf ihn herabsehen.
Eine Familie? Verantwortung, Streit mit dem Partner, Kinder, die erst Zeit und später Geld kosteten.
Und Geld ... woher sollte man in dieser Welt Geld nehmen? Was sollte er sich dann davon kaufen? Diese ganzen Konzepte sagten ihm nichts.
"Jack! JACK!"
Er hielt an, noch immer auf dem Geländer. Seine Mutter stoppte kurz hinter ihm.
"Komm ... komm da runter."
Er sah in die vorbeifließenden Fluten und spürte den kühlen Abendwind im Haar. Die Dunstglocke der Hitze, die über der Stadt gehangen hatte, löste sich auf.
Er kletterte auf den Boden. Seine Mutter schloss ihn in die Arme. "Was ist denn los?"
"Ich weiß es nicht", entgegnete er schwach. "Wenn ich daran denke, eine Steuererklärung machen zu müssen, wird mir so übel, dass ich am liebsten sterben würde."
Sie sah ihn verdutzt an. "Aber ... da müssen wir alle durch."
"Ich weiß." Er löste sich von ihr und ging schweigend zurück. Nach einer Weile hörte er ihre Schritte, die ihm folgten. Niemand sprach ein Wort, bis sie vor ihrem Haus waren und Jacks Mutter den Schlüssel herauskramte, während Jack teilnahmslos wartete.
"Weißt du, die ersten Steuererklärungen sind gar nicht so schlimm. Bei dir ist es ja auch noch einfach. Du bist Single, hast keine Familie und keine Sonderregeln. Ich helfe dir auch."
Er sah auf. "Es ist nicht nur ..."
Seine Mutter schloss die Tür auf und trat ins Treppenhaus. Ihre Wohnung lag ebenerdig, rollstuhlgerecht. Auf der Schwelle stolperten sie über einen Brief.
Jacks Mutter bückte sich. "Für dich."
"Für ... mich?" Jack nahm das Papier mit zitternden Fingern entgegen.
"Mach schon auf."
Jack riss den Umschlag auf und zog ein formell aussehendes Schreiben heraus. Sehr geehrter Herr Murrow, wir freuen uns, Sie im Team begrüßten zu dürfen ...
"Was ist? Du bist ganz blass."
"Die Bücherei. Sie haben mich genommen."
Seine Mutter starrte ihn an. "Was du für ein unverschämtes Glück hast", murmelte sie leise.
Jack zog den Kopf ein.
"Gut, zur Feier des Tages bestellen wir Pizza. Einverstanden?"
Jack nickte zögerlich.
"Und jetzt lächel doch mal. Du liebst Bücher. Du sortierst gerne, jedenfalls räumst du immer dein Zimmer auf, wenn du dich beruhigen willst."
"Das weißt du?", fragte Jack erstaunt.
"Was meinst du, was für Sorgen ich mir mache, weil die letzten Wochen nicht eine Socke auf dem Fußboden lag."
Er sah auf den Boden. Er wollte doch niemandem Sorgen bereiten!
Seine Mutter drückte ihn an sich. "Es wird alles gut. Jetzt sag schon, welche Pizza."
"Du wusstest, dass es mir ... nicht so gut ging?"
"War es wegen der Bewerbungen?", fragte seine Mutter. "Du musst lernen, damit umzugehen. Ich weiß, dass das nicht einfach ist, aber du musst es schaffen, diese Widerstände zu überwinden."
"Hättest du das nicht sagen können, anstatt mich noch mehr zu stressen?", fragte er wütend. "Ein bisschen Mitgefühl vielleicht?"
"Du bist erwachsen", erwiderte sie schlicht. "Und ich kann nicht immer für dich da sein. Verstanden?"
Er seufzte. Nickte.
"Also, welche Pizza?"
"Hawaii."
"Na also - kannst dich ja doch entscheiden. Und weil ich nett bin, rufe ich an. Du deckst den Tisch und sagst deinem Vater Bescheid."
Er schlurfte los. Ein wenig erleichterter als zuvor. Und nervös, weil er in drei Tagen zum ersten Mal zur Arbeit gehen würde.