- Start: 23.10.2021 - 17:47 Uhr
- Ende: 23.10.2021 - 18:18 Uhr
CN: Horror (P12)
Das erste Mal, dass ich ihn sah, war noch recht zu Beginn meiner Reise. Mein Weg führte mich damals durch ein steiniges Land, Hügel aus Gras und rotem Moos unter einem von dicken, grauen Wolken dominierten Himmel. Dunkle Halme auf weichen Wogen, und aus dem Moosteppich ragten überall Steine und Felsen. Ein raues Land, über dem der Wind heulte.
Dicke Regentropfen lagen in der Luft.
Ich erklomm einen dieser Hügel, einen der kleineren, und ließ im Aufstieg meinen Blick zur Seite wandern. Dort, ich weiß es noch genau, wölbte sich ein zweiter Hügel, groß und dräuend, besteckt mit dem roten Holz gefallener Tannen.
Und dort auf seinem Kamm, in einer Entfernung von vielleicht zweihundert Metern, da erschien mit einem Mal der Bär. Ein schwarzes Tier, das mit gemächlichen Schritten ging, parallel zu mir, den Blick nach vorn gerichtet. Ein Schauer überlief mich und ich beschleunigte meinen Schritt, wich von meinem Pfad ab. Doch der Bär, wenngleich er mich nicht beachtete, erschien mir immer wieder in meinem Blickfeld. Es schien, als wäre sein Weg der gleiche wie meiner. Ich glaubte schon, dass er mich vielleicht nicht wahrnahm, doch da drehte er den Kopf und sah direkt zu mir herüber.
Seine Augen waren von einem hellen Blau, wie die Unendlichkeit eines Sommertags oder das Herz eines Gletschers.
Ich konnte mich vor Furcht kaum rühren, bis der Bär wieder nach vorne sah und weitertrottete. Langsam folgte ich ihm, denn in jener Richtung lag auch mein Ziel. Ich ließ dieses Tier nicht aus dem Blick, und auf eine Weise, die ich mir selbst nicht erklären konnte, schien auch er mich zu beobachten, ohne jedoch zu mir zu sehen.
Viele Jahre später hatte ich dieses Ereignis bereits vergessen. Ich befand mich auf einem neuen Abschnitt meiner Reise, weit von jenen Hügeln entfernt, auf der Flanke eines steilen Berges. Ich hielt mich im Schatten seines schneegekrönten Gipfels, in einem Wald hoher, dunkler Tannen, dessen Boden ein brauner Teppich war, auf dem Pilze leuchteten. Die Luft war warm vom letzten Hauch des Sommers, und Insekten schwirrten in der Luft.
Langsam folgte ich dem Weg über den ebenen Hang, durch Gräben, die Schmelzwasser gegraben hatte, als ich hörte, wie in der Nähe ein Ast unter einem Gewicht brach. Verwundert drehte ich den Kopf und erblickte, näher, als ich es erwartet hätte, einen schwarzen Elch. Das große Tier trabte weiter unten am Hang dahin, der Kopf mit dem mächtigen Geweih wippte, und ich schluckte angesichts dieses großen Hirsches, den ich zuvor nicht bemerkt hatte. Sein Fell war dunkel, doch seine Augen von jenem eisigen, unendlichen Blau. Ich wusste, dass ich ihn kannte.
Vorsichtig folgte ich weiter meinem Pfad, und der Elch folgte dem Seinem. Seine langen Schritte trugen ihn rascher dahin, doch war er weit vor mir, so hielt er wie absichtlich und fraß ein paar Blätter eines jungen Strauchs, bis ich ihn eingeholt, gar überholt hatte. Auf diese Weise zogen wir lange dahin, der Elch und ich, doch kein einziges Mal traf sich unser Blick, und bald vergaß ich, zu ihm hinzusehen.
Meine Schritte trugen mich alsbald zu grünen Wiesen an der Oberseite hoher, steiler Klippen, um deren Fuß das Meer zornig brauste. Ozeanwind beugte die Halme und die Blumen hier oben, die Wolken zogen rasch dahin und schienen so fern und doch zum Greifen nah, denn es gab keine Grenze zwischen mir und dem Himmel. Seevögel kreischten über mir, die Luft roch nach Salz und der Wind schien mich zu den Klippen zu ziehen. Ich fand mich bei dem Gedanken, dass ich meinen rätselhaften Begleiter vermisste. So hielt ich an, sah auf die grauen Wellen, die unten gegen den kurzen, steinigen Strand spülten.
Da erschien eine Fontäne, und vor meinem Blick erhob sich ein dunkler Wal aus den Fluten. Vielleicht war es das Licht, das meinem Auge einen Streich spielte und dieses Tier schwarz erscheinen ließ, doch jeder Zweifel verflog, als ich sein blaues Auge blitzen sah. Er grüßte mich mit einem Wink seiner Fluke und tauchte ab, doch ich zweifelte nicht, dass er unter den Wellen verblieb, statt in die Tiefe abzutauchen.
Ein anderes Mal war ich auf weitem Feld, als ein Sturm heranrollte. Dunkel drohten die Wolken, so verbarg ich mich in einer Erdhöhle zu den Wurzeln einer großen, alten Eiche. Diese Baum breitete seine Äste über mich, während der Donner grollte und Regen eine dichte Wand bildete, Flüsse über die Erde sandte, die alles und jeden mit sich rissen. Die Luft erbebte und ich fürchtete mich sehr, wie ich da saß in meiner Grube, durchnässt und zitternd und umringt von steigendem Wasser, nichts als den Baum zu meiner Seite.
Doch als ein Blitz zuckte, da war er von einem hellen Blau, und er traf nicht den hohen Baum, sondern die Erde in einige Entfernung. In diesem Moment, so glaube ich, wuchs unser gegenseitiger Respekt. Ich verstand ein wenig mehr von der Kraft dieses Wesens, und es wiederum - es sah meine Furcht, die mich trotzdem nicht von meiner Wanderung abbringen konnte. Doch alle Angst schwand, als ich meinen treuen Schatten erkannte.
Auf einer Lichtung im Wald, die von Mohnblumen bestanden war, erblickte ich im Sonnenschein ein schwarzes Pferd, das mit dem Wind um die Wette lief. Sein Blick strahlte von jenem hellen Blau, wie ein Saphir, der im Bett zwischen Mohn- und Sonnenblumen sein Heim finden sollte. Doch der Hengst drang der Freiheit entgegen. Ich sah seinen Galopp, dem ich niemals folgen können würde, doch hielt er sich in meiner Nähe, kehrte um und erschien auf Lichtungen, die ich zwischen dem Schatten der Bäume durchquerte. Als ich rastete, auf einem sanften Hügel, sah ich zu meinen Füßen das schwarze Pferd aus einem Fluss trinken, und als ich weiterzog, da erschien es bald hinter mir, trabte in meiner Spur, galoppierte so nah, dass ich den Hufschlag in der Erde fühlte, doch immer noch zu weit, als dass ich daran denken könnte, es zu berühren. Sein blauer Blick war voller Energie, und doch ruhte eine Gelassenheit darin, die mich beruhigte.
Ich wanderte dann durch eine Stadt, die war vor Jahren untergegangen. Die Straßen waren zerrissen, Pflanzen rankten über die Häuser, Blumen blühten aus den zerbrochenen Scheiben der Autos. Hier überkam mich eine Wehmut, wie ich sie selten zuvor gespürt habe, eine Melancholie angesichts des Verfalls und seiner Schönheit. Wie merkwürdig es doch ist, dass etwas Zerbrochenen gleichzeitig ein neues Ganzes ist. Ich grübelte lange über diesen Umstand, bis ich merkte, dass ein Schatten über mich glitt. Da sah ich mit Staunen einen Raben, der dicht über mir dahinflog und auf einem Auto entlang meines Weges hielt, um eine Nuss zu knacken. Ich brauchte die blauen Augen meines Freundes nicht zu erblicken, um ihn zu erkennen.
Wortlos und ohne ein Krächzen folgte der Rabe mir durch die Straßen, hüpfte hier und dort durch Türeingänge oder wartete auf einem rostigen Ampelbogen. Manchmal hörte ich seinen Flügelschlag hinter mir nahen, und hätte ich mich gestreckt, so hätte ich ihn fast berühren können.
Wie oft sah ich ihn! Seine Spuren im Weiß eines Schneefeldes unter dem silbernen Mond. In der Hitze flimmernd seine Gestalt am Rand goldener Wüsten. Ein Schatten im Wald oder vor der sinkenden Sonne im Gebirge, ein Tänzer auf dem Eis der Gletscher, ein Geist in der Stunde der Dämmerung. Ich sah ihn als Fuchs und als Katze, und als Stern am Himmel.
Nun jedoch gibt es keinen Horizont und keinen Himmel zu sehen. Nun ist es an mir, meine Reise zu beenden, die ewige Suche und Flucht, in dieser Höhle an einem kleinen Feuer. Ich sitze und warte, und ich sehe zum Eingang, wissend, dass er bald dort erscheinen muss. Ein schwarzer Wolf mit blauem Blick. Heute werde ich die Finger ausstrecken und ihn berühren können.
Was dann geschieht, weiß ich nicht. Doch ich weiß, dass ich mich nicht zu fürchten brauche. Ich habe gefunden, was ich suchte, mein Ziel erreicht.
Nein, nicht die Höhle. Ihn.