- Start: 05.12.2021 - 16:00 Uhr
- Ende: 05.12.2021 - 16:20 Uhr
Häh? Das kann doch überhaupt nicht stimmen!
Entgeistert sehe ich noch einmal auf die Anzeige.
Zweiter Platz?
Zweiter Platz?!
Seit Jahren halte ich den Rekord im Angeln und sitze bequem auf dem ersten Platz. Zwar nur, weil ich einen gewissen Draht zu Fischen habe und meine selbst hergestellten Spezialköder, aber nichts davon ist gegen die Regeln.
Da muss auf jeden Fall ein Berechnungsfehler vorliegen. Entschlossen wende ich mich dem Podium zu, wo die Richter noch sitzen und diskutieren.
Ich trete nah an die Jury und mustere sie. Allesamt eingefleischte Kenner. Wie könnte denen ein Fehler passieren?
"Ah, Jorg." Natürlich kennen die mich. Mir wird ein silberner Pokal überreicht. Zwar nur aus Plastik, aber die Drohung darin ist deutlich.
Zweiter Platz.
"Danke", murmele ich.
"Willst du noch zur Siegerehrung bleiben? Diese Neue hat es echt drauf, was?"
"Welche Neue?" Ich konzentriere mich immer nur auf meine Arbeit und beachte die anderen Kontrahenten nie.
Der Mann der Jury nickt in eine Richtung und ich stolpere, meinen Pokal in Händen, dorthin.
Dann bleibe ich am Ufer des Sees stehen, wie vom Donner gerührt, als ich die Neue erblicke.
Ich hatte mit einer dahergelaufenen Rotznase gerechnet, die einfach Glück mit ihrer Position gehabt hatte. Irgendjemand, bei dem ich mir einreden könnte, dass es Zufall war.
Doch es ist eine ältere Dame, gebeugt, in einem Kleid, das mehr Lumpe zu sein scheint, großmütterlichem Lächeln, Ohrenschützern und einem gewaltigen Stapel Fische neben sich.
Mir fallen fast die Augen aus dem Kopf, als sie nicht nur einen, sondern drei weitere Fische aus dem See zieht, noch während ich hinsehe. Dass der Wettbewerb vorbei ist, scheint sie noch gar nicht gemerkt zu haben. Sie wirft nur immer wieder die Angel aus und summt dabei fröhlich.
Dieses Muttchen könnte ein ganzes Land ernähren, wenn sie mal zwei Tage am Stück fischte.
Unter den Blicken der Menge nähere ich mich der Alten. Endlich kann ihr jemand erklären, dass sie aufhören darf, doch nicht, bevor sie nicht noch sieben Fische erledigt hat. Dass der See noch nicht leer ist! Die Züchter würden ihre liebe Mühe haben, den Bestand für das nächste Jahr wieder aufzustocken.
Die Blicke, die mich streifen, sind mitleidig. Manche misstrauisch. Sie wissenn, dass ich der Champion war, und fragen sich, was ich nun von der Frau will.
Sie dreht sich um, als sie mich hört, und lächelt freundlich. "Ja, guter Mann?"
Ich atme tief durch. Schlucke meinen stolz herunter. "Herzlichen Glückwunsch. Zum Gewinn."
Die Dame sieht verwundert auf den Goldpokal, den man ihr hingestellt hatte, weil sie ihn nicht persönlich angenommen hat.
"Ach, das ... ich habe gar nicht gewusst, dass heute ein Wettkampf ist." Sie lacht. "Witzig."
Ich beiße die Zähne fest aufeinander und knirsche ein wenig damit.
Nicht gewusst? Diese demente Irre ist hier einfach reingewandert und hat meinen Sieg gestohlen?
"Tja, wie das Leben so spielt." Ich gebe ihr die Hand. "Kommen Sie nächstes Mal wieder?"
Sie zuckt die Schultern. "Mal sehen, wie es so passt."
Oh nein. Bloß nicht! "Vielleicht sehen wir uns ja dann", bringe ich gequält hervor.
Wo kam diese Schrulla überhaupt her? Wie betäubt wanke ich zurück zu meinem Auto.
Eine ganze Weile sitze ich im Wagen und kann nicht fassen, dass ich verloren habe.
Okay, der zweite Platz ist zwar nicht direkt verloren, jedenfalls nicht für normale Menschen, aber das Fischen ist so ziemlich das Einzige, in dem ich gut bin. Alles, was mir Sicherheit gibt.
Und jetzt gibt es da diese komische Alte ...?
Es dauert fast eine Stunde, bis ich endlich losfahren kann. Da sind die meisten schon weg. Auf der Straße bemerke ich jedoch die alte Frau, die leicht humpelnd zu Fuß dahinkriecht.
Es wäre so leicht, einfach weiterzufahren. Zähneknirschend halte ich.
"Kann ich Sie ein Stück mitnehmen?"
"Oh, das ist ja höchst freundlich von Ihnen! Wissen Sie, mein Enkel wollte mich abholen, aber ihm ist etwas dazwischengekommen. Er ist ein vielbeschäftigter Mann, und deshalb ..."
Ich unterdrücke ein Seufzen. Sei einfach still! Erst stiehlst du mir meinen Sieg, und jetzt quatscht du mich voll! Ich ertrage das nicht.
Schweigend fahre ich weiter.
Schließlich räuspere ich mich. "Wie machen Sie das?"
"Das Fischen? Altes Familiengeheimnis." Sie lächelt geheimnisvoll. "Sie sind der zweite Platz, nicht wahr? Der Gewinner vom Vorjahr."
"Vorjahre." Das konnte ich mir nicht verkneifen.
Sie tätschelt meinen Arm. "Sie sind gut. Vielleicht können wir uns mal treffen und gemeinsam fischen."
Meint sie das ernst? Ich will doch nicht mit ihr irgendwo fischen!
Ich bremse mich. Sie kann mir vermutlich einiges beibringen, wenn ich es nur zulasse.
"In ein, zwei Monaten vielleicht?" Ich lächele schief. Die Zeit brauche ich, um meinen Stolz wieder zu flicken.
"Das klingt gut", stimmt die alte Dame zu.