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- Start: 27.12.2021 - 08:37 Uhr
- Ende: 27.12.2021 - 08:55 Uhr
Sie schnappte nach Luft, als sie die Rauchsäulen sah. Einen Augenblick sah es sogar so aus, als würden diese wie Tornados auf die Straße zurasen, doch das musste an der Kurve liegen, die das Fahrzeug beschrieb. Lena zog ihre Tochter an sich und presste sich das Handtuch vor den Mund, was das einzige war, dass sie hatte einpacken können.
Der Fahrer sah stur geradeaus. Auf dem Feld dagegen lagen brennende Autos derjenigen, die weniger Glück gehabt hatten als ihre Kolonne. Der schwarze Qualm war erstickend dicht.
Mit einer Explosion sprang ein Auto in die Luft, wirbelte umher und prallte wieder auf den Boden. Lena schrie erstickt auf. In gewisser Weise erinnerte der Anblick an Popcorn, doch der Vergleich erschien ihr makaber.
Sie tauchten glücklicherweise bald in ein Wäldchen ein. Schatten bewegten sich hinter den Stämmen, jedoch war die Kolonne zu schnell vorbei, als dass Lena viel erkennen könnte. Sie drücke Marie weiterhin an sich.
"Mama ...?"
"Schhh", machte Lena.
"Mama, können wir noch mal zurück? Ich habe meinen Malblock vergessen."
Lena fuhr ihrer Tochter durch das Haar und bekämpfte die Tränen. Sie hatten noch Schlafanzüge an, weil ihr Mann sie mitten in der Nacht aus dem Bett geholt hatte. Die Bilder des Wetterberichts hatten sich in Lenas Gedächtnis gefressen, diese weiße, wirbelnde Wolke, die ganz Europa bedeckt hatte, und dazu die angespannte Stimme des Nachrichtensprechers, der von unbekannten Flugobjekten, Stürmen und Toten gesprochen hatte.
Sie hatten nichts mitnehmen können, nur ein Handtuch, was ihr als altem Douglas-Adams-Fan eigentlich witzig erscheinen sollte.
Aber Lena hatte einfach nur Angst.
"Wir fahren wieder zurück, wenn der Sturm vorbei ist", versprach sie. "Dann können wir alles holen."
Der Fahrer warf ihr im Rückspiegel einen Blick zu und Lena verzog das Gesicht. Was sollte sie denn tun, außer ihre Tochter zu belügen?
Sag ihr die Wahrheit. Ihr werdet nie wieder zurückkommen. Ihr Papa wird auch nicht mehr zurückkommen. Alle, die es nicht rechtzeitig rausschaffen, werden sterben. Alles, was hier noch steht, wird zerstört werden.
Wieder kämpfte Lena gegen die Tränen, die ihr die Luft abschnürten.
Kurz vor Berlin war der Tank leer. Wie viele andere auch marschierten sie zu Fuß weiter. Die Straßen waren voller Autos, ebenso die Felder daneben. Lena trug Marie auf dem Arm und eilte voran.
Vor der Stadt gab es mehrere Busse, die sich zunehmend füllten.
"Nur Alte und Kranke!", rief ein Fahrer lautstark.
Lena drängelte sich vor. "Bitte, nehmt meine Tochter!" Sie hielt Marie hoch.
"Nur Alte und Kranke", wiederholte der Fahrer mit gerunzelter Stirn. "Gehen Sie aus dem Weg."
"Bitte, sie ist doch noch ein Kind! Sie braucht nicht viel Platz."
"Gehen Sie."
"Retten Sie ihr Leben, bitte!"
"Mama!" Lena klammerte sich an sie. "Ich will nicht weg."
"Gehen Sie zurück!", rief der Mann und zückte zu Lenas Entsetzen eine Waffe. "Na los."
Weinend drückte sie ihr Mädchen an sich und kehrte zu den anderen zurück, die zu Fuß laufen mussten. Die Menge drängte sich um sie.
Sie gingen neben der Straße, während Bus um Bus an ihnen vorbeisauste. Nicht alle waren voll besetzt, doch alles Flehen der Gehenden half nicht. Nur ein Wagen wurde geentert, als jemand in dessen Weg sprang, und schon bald saßen so viele Menschen auf und im Bus, dass dessen Reifen mit einem Knall nachgaben. Das Geschrei, Geschubse und Gezerre sah selbst aus der Entfernung tödlich aus. Lena und Marie waren glücklicherweise weiter vorne.
Dann kam eine Senke, an der sie anhielten. Denn unten erhoben sich Berge blutiger Leichen, die irgendwelche scharfkantigen Wesen aufgeschlitzt hatten. Lena erstarrte einen Moment entsetzt bei dem unwirklichen Anblick, dann setzte sie Marie ab und band ihr das Handtuch eilig um die Augen. Die anderen Überlebenden murmelten.
Ein Bus fuhr vor. "Auf mein Zeichen müssen Sie alle rennen", erklärte der Fahrer ihnen und stieg aus.
"Lassen Sie uns in den Bus! Zu Fuß schaffen wir es nicht!", rief eine Frau.
"Doch, das geht. Sie müssen nur alle zusammenbleiben und warten, bis diese Kreaturen abgelenkt sind."
Kreaturen. Lena schluckte.
Der Fahrer stieg in den Bus und stellte die Handbremse los. Dann stieg er aus.
Vor Lenas entsetzten Augen rollte der Bus mit den Kranken darin langsam bergab und nahm Geschwindigkeit auf. Dann erreichte er die Leichen.
Von den Seiten sprangen riesige, insektenartige Tiere herbei. Sie schwärmten auf den Bus und hieben mit langen, gezackten Beinen durch die Scheiben. Ein hohes Trällern war zu hören und Blut spritzte.
"Jetzt! Los!", brüllte der Fahrer und die Menge rannte. "Solange sie abgelenkt sind! Schnell!"
Lena rannte mechanisch mit. Durch das Tal, über die Leichen, immer den anderen her, während das hohe Kreischen der Insekten in ihren Ohren klingelte und ihr Herz panisch pochte. Sie presste Lena an sich, während ihr immer und immer wieder ihre eigene Bitte durch den Kopf ging.
"Lassen Sie meine Tochter in den Bus, bitte. Retten Sie ihr Leben."