- Start: 16.10.2020 - 18:58 Uhr
- Ende: 16.10.2020 - 00:00 Uhr
Sie schlichen durch den Schutz der Dunkelheit. In den Brombeerhecken raschelte es sacht, als dort kleine Tiere erwachten. Die Felder lagen verwaist da.
Martha sah zurück. Jakob folgte ihr so leise, dass sie sich vergewissern musste, dass er noch da war. Ihren Blick erwiderte er emotionslos, vielleicht ein bisschen trotzig.
Martha konzentrierte sich wieder auf die Öffnung in der Hecke, ihr Ziel. Der Weg würde sie hoffentlich nach draußen führen.
Und dort ... mussten sie dann weitersehen.
Sie sah ein letztes Mal zurück. Der Mond schien durch die Plane, die das Lager überdachte. Niemand war ihnen gefolgt.
Die Freiheit war zum Greifen nah. Hoffnungsvoll huschte Martha in den Schatten der Brombeeren.
Laub raschelte unter ihren Schritten. Sie waren nur wenige Meter gegangen, als unvermittelt eine Stimme vor ihnen ertönte.
"Ich wusste, dass du kommen würdest."
Jakob schrie auf. Martha wich zurück.
Vor ihnen bewegte sich jemand und trat aus der Finsternis unter den Dornenranken. Mondlicht fiel auf den metallenen Lauf einer kleinen Pistole, die auf Martha zielte.
"Du dachtest doch nicht, dass es so einfach wäre, oder?"
"Marcel", sagte Martha ruhig. Doch ihr Blut kochte. Wie kam der Idiot dazu, mit einer Waffe auf sie zu zielen? Ein Verräter also, das war er. Ein Verräter wie Bernhard.
Ein Windzug strich durch die verwilderten Hecken und zerrte an ihrem Haar. Jakob, Martha und Marcel starrten einander an, ohne sich zu rühren.
"Dabei wisst ihr jetzt, welche Strafe auf Ungehorsam steht", fuhr Marcel fort. "Aber ich habe geahnt, dass dich selbst der Tod nicht schrecken kann."
Martha trat vor, bis ihre Stirn die Mündung der Pistole berührte. Wütend funkelte sie Marcel an, als sie flüsterte: "Ich wäre lieber tot, als hier eingesperrt."
Marcel schnaubte. "Mach dich nicht lächerlich. Ich bin mit dir gereist. Du tust alles, um zu überleben. Die Arbeit im Clan ist da keine Ausnahme - nein, für dich zählt nur, dass du überlebst. Also hat dich ein anderer Grund hier rausgetrieben."
Der kalte Druck wich von Marthas Stirn, als die Pistole zur Seite schwenkte. Und sich auf Jakob richtete.
Marthas Bruder schluckte hörbar.
Marcel ließ Martha nicht aus den Augen. "Du fürchtest den Tod. Doch dein Bruder ist dein Ein und Alles. Du willst gehen, um ihn zu retten."
"Geh mir aus dem Weg", knurrte Martha.
"Unter der harten Schale schlägt also doch noch ein Herz." Marcel schüttelte bedauernd den Kopf. "Das wird eines Tages dein Untergang sein, Martha Wagner."
"Du könntest mit uns fliehen", sagte sie.
"Ich? Mir geht es hier super. Die Wächter genießen einige Annehmlichkeiten. Und du weißt ja: Wir alle versuchen nur, zu überleben. Das ist alles, was zählt."
Marcel bedeutete ihnen mit der Waffe, umzukehren. Jakob hob zögerlich die Hände.
Martha folgte ihm schweigend. In ihr brodelte es, doch sie konnte nichts tun. Marcel hatte recht: Sie wollte nicht riskieren, dass Jakob etwas zustieß.
Während sie zum Mineneingang zurückkehrten, dämmerte ihr, dass dies das Ende war. Die Strafen für einen Fluchtversuch waren grausig.
Bilder an Coras Tod drängten sich ihr auf, nur war es in ihrem Kopf Jakob, der dort hing.
Hätte sie nur besser aufgepasst!
Verzweifelt suchte sie nach einem Fluchtweg. Doch es gab nur das offene Feld, wo sie ein viel zu leichtes Ziel wären. Vielleicht könnte sie Marcel ausschalten ...? Aber er rechnete damit und war vorbereitet.
Martha schloss die Augen.
Verdammt, sei hart! Du kannst nicht für einen anderen Menschen aufgeben, egal für wen!
Aber sie schaffte es nicht, sich dazu zu überwinden. Sie würde alles tun, um ihren Bruder zu schützen.
Er war alles, was von ihrer Familie geblieben war - nur das zählte.
"Es war meine Idee", sagte sie. "Ich habe Jakob gezwungen, mir zu folgen. Er wollte mich aufhalten, nur deshalb war er überhaupt hier draußen."
"Rührend", sagte Marcel. "Aber dieser Altruismus steht dir nicht."
Sie hörte ein Rascheln. Als sie sich umdrehte, hatte Marcel die Waffe weggesteckt. Martha starrte ihn an.
"Geht wieder schlafen." Marcel nickte zum Eingang in die Tiefe. "Schlaft und lebt weiter wie gehabt. Niemand muss hiervon erfahren."
"D-du lässt uns laufen?", fragte Jakob verwirrt.
"Nicht laufen. Ich lasse euch leben. Heute jedenfalls werde ich euren Fluchtversuch nicht melden."
Jakob zitterte.
Martha starrte Marcel unverwandt an. "Warum? Als Druckmittel?"
"Ihr habt mir geholfen. Ich zahle das nur zurück", brummte Marcel.
"Wenn du uns wirklich helfen willst, dann lass uns gehen!", verlange Martha. "Jakob hält die Arbeit hier nicht mehr lange aus, und dann ..."
"Nein." Marcel schüttelte entschieden den Kopf. "Sie würden euch noch vor dem Mittag eingefangen haben. Ihr könnt keinen Reitern davonlaufen."
Martha ballte die Hände zu Fäusten. "Wir können auch nicht bleiben ..."
"Ihr braucht einen besseren Plan", knurrte Marcel. "Ihr könnt nicht einfach ins Blaue laufen. Deine eigene Lehre, Martha."
Sie seufzte. "Erst denken, dann handeln."
Marcel nickte. "Das ist, was wirklich zählt. Du bist klug, also verhalte dich entsprechend." Er trat vor und drängte sie dadurch zu der Treppe. "Flieht an einem anderen Tag."
Martha stieg hinunter in die Dunkelheit. Wie die Wendeltreppe wanden sich Zweifel und Sorgen durch ihren Kopf. Sie war in einer hoffnungslosen Situation gelandet und musste irgendwie entkommen.
Aber ... wie?