- Start: 04.09.2019 - 18:35 Uhr
- Ende: 04.09.2019 - 18:52 Uhr
Die Absperrbänder der Polizei flatterten im Wind. Die Öffnungen der Häuser gähnten wie Höhlen. Obwohl einzelne, große Tropfen aus dem düsteren Himmel fielen, betraten sie keines der schutzbietenden Gebäude.
"Habt ihr das gehört?" Daniel fuhr nervös herum.
"War bestimmt nichts", murmelte Martha und stapfte weiter voran. Die anderen folgten und Marcel ergriff wortlos Daniels Arm, um den Jüngeren weiterzuziehen, der noch immer angestrengt die Straße hinunterspähte.
"Da! Schon wieder!" Daniel riss sich von Marcel los und stampfte mit dem Fuß auf. "Ihr müsst es doch auch hören!", brüllte er.
"Halt die Klappe!", fuhr Martha ihn an. "Das war nichts. Lass uns weitergehen."
"Doch, da war was! Ein Helikopter!" Daniel machte keinen Schritt vorwärts. Die neun Kinder und Jugendlichen hielten an. Die kleine Amalia setzte sich gleich auf den Boden, mitten in eine Pfütze.
"Boah, ey, ich drehe dem kleinen Scheißer den Hals um!", brummte Alek wütend.
"Können wir bitte eine Pause machen?", bat Christina Hansen so aufreizend artig, dass Martha ihr am liebsten eine gescheuert hätte.
"Nein! Wir sind mitten in der Quarantänezone. Wir werden keine Pause machen! Amalia, steh auf!"
Die Vierjährige weigerte sich. Es brauchte den stummen Finnik - ob er wirklich taubstumm war oder einfach die Sprache nicht verstand, hatte Martha noch nicht herausgefunden -, um das junge Mädchen hochzuziehen.
"Weiter", knurrte Martha und ging zwischen den Regenpfützen voran.
"Aber der Helikopter ...", beharrte Daniel.
"Dann warte hier, wenn du willst. Ich gehe weiter, und alle, die leben wollen, tun gut daran, mir zu folgen!", knurrte Martha.
Daniel zögerte eingeschüchtert. Er warf einen Blick zum Himmel, wo das Geräusch der Rotoren immer lauter wurde. Dann zog er die Schultern hoch und lief Martha hinterher.
Später, als sie in einer verlassenen Fabrik untergekommen waren, ihre Zelte im Hauptraum aufgestellt hatten und die Älteren sich um das Feuer kümmerten, gab Jakob ihr einen Wink.
"Entschuldigt mich kurz", sagte Martha, legte den Feuerstein weg und bahnte sich ihren Weg zwischen den Jüngeren hindurch, die damit betraut waren, ihr weniges Gemüse kleinzuschneiden. Christina Hansen, die niemals Widerworte gab, musste die vier Ratten häuten und waschen.
Ihr jüngerer Bruder zog Martha in einen Nebenraum. "Hättest du ihn wirklich zurückgelassen?"
"Wen? Daniel? Natürlich."
"Aber du weißt, was geschieht. Du hast die Leichen von Mustafa und Mai gesehen. Du hast die Papageien gesehen. Warum hast du ihm ..."
"Nicht die Wahrheit erzählt? Die findet er noch früh genug heraus. Oder er stirbt, wie die ganzen Schwächlinge vor ihm."
Bei ihren harten Worten sah Jakob Martha entsetzt an.
Sie seufzte. "Hör zu ... natürlich hätte ich ihm alles erklären können. Von den Fähigkeiten der Papageien, Geräusche nachzumachen. Aber denkst du wirklich, er hätte mir geglaubt, dass es solche Monster gibt?"
"Natürlich! Er ist in dieser Zeit aufgewachsen, er ist fünf!" Jakob wirkte immer noch fassungslos.
"Bis ich ihm alles erklärt hätte, wäre der Papagei bei uns gewesen", knurrte Martha erbarmungslos. "Dann wären wir jetzt alle tot."
"Wann bist du so geworden?", fragte Jakob sie. "Ich erinnere mich an ein Mädchen ..."
"An ein Mädchen, das Mai unter Tränen begraben hat? An ein Mädchen, das Josef aus dem Feuer gezogen hat? Oder diesen Idioten Bernhard vor den Zombies gerettet? Du weißt ja selbst, wie er es uns gedankt hat, das Schwein."
"Ist es deswegen? Dass du so ... hart bist?"
"Nein, nicht wegen Bernhard. Auf den bin ich wütend, und das ist das einzige Gefühl, das ich zulasse. Es ist wegen Louise." Martha seufzte und gestattete es sich kurz, ihre Maske fallen zu lassen.
"Das war wirklich eine dumme Geschichte", sagte ihr Bruder mitfühlend.
"Ich hab es nicht ertragen. Ich glaube, es hat mich zerbrochen", gestand Martha leise.
Und ebenso, wie die Welt eine vergebliche Quarantänezone um die Ausburchsherde errichtet hatte, hatte sie eine Sicherheitszone um ihr Herz gezogen. Niemand durfte hinein. Niemand. Ihr Herz war zu schwach, um auch nur den allerkleinsten Schnupfen besiegen zu können. Es musste beschützt werden.
"Gehen wir zu den anderen!" Die Besuchszeit ihres Bruders war um. "Es gibt noch viel zu tun."