- Start: 20.09.2021 - 15:05 Uhr
- Ende: 20.09.2021 - 15:20 Uhr
Das große Bauernhaus lag im Grau des aufziehenden Morgens, als Martha, Marcel und Jakob sich endlich aus dem Wald schleppten.
Das Reh war zwar ihre Rettung, wenigstens vorübergehend, doch auf dem Rückweg war die Beute immer schwerer und schwerer geworden. Sie hatten sich damit abgewechselt, wer das tote Tier und wer ihre Ausrüstung trug und hatten sich keine Pause gegönnt.
Jetzt fiel Jakob erleichtert auf den Boden vor dem Zaun, der das verfallene Haus umschloss. Marcel ließ das Reh zu Boden sinken und stützte keuchend die Hände auf den Oberschenkeln ab.
Martha ließ die Taschen in das hohe Gras fallen und trat an die Tür. Sie hämmerte gegen das Holz.
Einen Moment rührte sich nichts. Sie schlug erneut gegen die Tür. "Hey! Hallo?"
Drinnen hörte sie Kratzen, mit dem Holz bewegt wurde. Dann nahten Schritte und schließlich wurde die Tür einen Spalt geöffnet. Martha registrierte, dass die Kette vorhing, sodass die Tür nicht vollständig aufging.
Ciprian sah durch die Lücke. "Martha?!"
Sie machte einen Schritt zur Seite und deutete auf ihre Begleiter und den Hirsch. "Wir haben euch was mitgebracht."
Die Tür wurde geschlossen. Martha hörte das Rasseln, mit dem die Kette zurückgeschoben wurde, während Ciprian brüllte: "Viorel! Alexandru!"
Weitere Schritte folgten und die drei Männer traten hinaus, als Ciprian die Tür diesmal aufriss.
Mit großen Augen betrachteten sie die Beute.
"Wo habt ihr das denn her?", fragte Viorel verwirrt, während Alexandru finster zu den Taschen trat, diese aufhob und die Vorräte darin betrachtete.
"Das lief uns im Wald über den Weg", sagte Marcel.
"Warum wart ihr überhaupt weg?", fragte Alexandru feindselig. "Und warum habt ihr das ganze Essen mitgenommen?"
Ciprian und Viorel zögerten, als ihnen der gleiche Gedanke kam.
"Es war meine Entscheidung", sagte Martha. Alle Blicke richteten sich auf sie. "Marcel trägt keine Schuld. Er dachte, wir würden nur das Nötigste mitnehmen. Und Jakob ..."
"Schon klar, dass du deinen Bruder schützen willst." Alexandru warf die Taschen auf die Erde und trat mit schnellen Schritten vor Martha. "Du wolltest uns zum Sterben zurücklassen! Du hast ... du hast nicht mal an Valea gedacht. Ihr hättet wenigstens sie mitnehmen können."
"Das Essen hätte niemals für alle gereicht. Es war die logische Entscheidung, die Vorräte auf möglichst wenig Menschen zu verteilen. Menschen, die dafür Waffen tragen können."
"So siehst du das?", fragte Alexandru entgeistert. "Du hättest meine Tochter geopfert, weil sie nicht nützlich ist?"
"Das ist die Welt, in der wir leben." Martha zuckte mit den Schultern. "Der Hirsch hat die Sachlage natürlich geändert. Mit dem Fleisch halten wir deutlich länger aus."
"Wie lange? Wie lange, bis du uns wieder zum Sterben zurücklässt."
"Vielleicht den halben Winter", antwortete sie ehrlich. "Mit etwas Glück wächst noch Grünkohl bis dahin und wir überleben bis in den Frühling. Dann könnt ihr neu anbauen."
Alexandru atmete schwer von unterdrückter Wut. Er funkelte sie sprachlos an und brachte kein Wort hervor. Ihre Ruhe schien ihn mehr zu verwirren als die ganze Situation.
"Du glaubst, dass wir dir einfach so verzeihen?"
"Ich bitte nicht um Verzeihung. Ich weiß sehr wohl, welche Schuld ich trage." Martha legte den Kopf in den Nacken, um zu ihm aufzusehen. "Ich gehe aber davon aus, dass du das Essen für deine Tochter willst."
Er lehnte nicht ab, obwohl sie ihm ansah, dass er das gerne würde.
Doch das konnte er nicht. Alexandru würde alles opfern, um seine Tochter zu retten. Auch seinen Stolz.
Er nickte seinen Cousins zu, und die Brüder machten sich daran, den Hirsch ins Haus zu tragen. Sie mussten das Fleisch verarbeiten, bevor es noch verdarb. Die lange Reise hatte ihm bereits nicht gutgetan.
Marcel und Jakob folgten ihnen ins Haus, aber Alexandru hielt Martha noch einmal auf. "Eines Tages ... eines Tages kriegst du die Rechnung für deine Taten."
"Nein." Sie schüttelte den Kopf. "Ich habe gesehen, dass es keine Gerechtigkeit auf dieser Welt gibt."