- Start: 06.11.2021 - 16:12 Uhr
- Ende: 06.11.2021 - 16:29 Uhr
Knarzend öffnete sich der Deckel der alten Truhe. Das Geräusch hallte über den leeren Dachboden. Staub rieselte auf den Inhalt, der im schummrigen Licht kaum zu erkennen war.
Marcel erstarrte.
"Was ist das?" Valea trat neben ihn und hob die Laterne.
Marcel ignorierte sie. "Jakob! Komm, das musst du dir ansehen."
"Ernsthaft?!" Jakob stöhnte. Dann kletterte der Mann die Leiter herauf. Umständlich und langsam. Das Holz bog sich unter ihm und die Prothese, die an seinem linken Unterschenkel ansetzte, wackelte noch. Doch alle Genervtheit schwand, als er die Bücher erblickte.
Valea sah zwischen den beiden Männern hin und her. "Was ist? Was habt ihr?" Ihr eines Auge blickte fragend. Eine Augenklappe verbarg die Überreste des zweiten.
Humpelnd kam Jakob näher und kniete sich vor die Kiste. Er nahm einen der alten Ledereinbände hervor und strich darüber.
"Und du dachtest schon, das Haus stünde nicht mehr." Marcel lachte leise.
Jakob öffnete den Einband. Ein Foto rutschte aus den Seiten und fiel auf dem Boden. Darauf waren drei Personen zu sehen.
"Das seid ja ihr!", rief Valea aus und hob das Foto auf. "Ist das ...?"
"Martha", sagte Marcel und nickte.
"Wooow." Andächtig strich die Teenagerin über das verblichene Foto.
"Das war ganz am Anfang", murmelte Jakob. "Etwa eine Woche nach dem Tod unserer Eltern."
"Da haben wir meine Mutter noch gesucht!", erinnerte sich Marcel.
"Jedenfalls haben wir in diesem Supermarkt gehalten, wo es alles gab, was wir uns nur wünschen könnten. Wir haben den ganzen Süßkram eingepackt und gefeiert."
"Gute, alte Zeit." Marcel lächelte wehmütig.
"Ich dachte, während der Invasion sei alles schlecht gewesen."
"Nicht alles, Valea." Marcel zog das Mädchen an sich. "Nicht alles."
Sie reichte Jakob das Foto, der es traurig betrachtete und wieder in das Buch legte. Er blätterte um. Ein trauriges Lächeln huschte über seine Lippen. "Ich dachte, ich sehe es nie wieder. Martha hat darauf bestanden, dass wir nur Essen und Vorräte mitnehmen. Tagebücher waren nur Ballast."
Er klappte das Buch zu und klemmte es unter seinen Arm, um ein zweites aus der Kiste zu ziehen. 'Martha' stand darauf.
"Sie hat auch Tagebuch geführt?" Valea riss das Auge auf.
"Oh, ja. Sie war genau wie ich damals. Wir konnten uns beide nur so behelfen." Jakob strich über den Einband, öffnete das Tagebuch jedoch nicht. "Sie hat jeden Tag geschrieben. Bis ... bis zu jenem Tag, an dem Louise starb."
"Was meinst du, wie viel das wert ist?", fragte Valea. "Das Tagebuch derjenigen, die die Alien-Königin getötet hat! Jeder Historiker würde uns die Hände küssen."
Jakob steckte auch das Tagebuch seiner Schwester unter seinen Arm. "Ich weiß nicht, ob wir das tun sollten. Es ist ihr Tagebuch, sie würde nicht wollen ..."
"Jakob, sie ist tot", sagte Valea möglichst sanft. "Und das da könnte helfen, sie zu einer wahren Legende zu machen. Vor allem würde es aber uns helfen. Wir brauchen Geld."
"Da hat sie recht", murmelte Marcel sanft. "Ich kann nicht behaupten, dass ich mir die Aliens zurückwünschte, aber damals war vieles einfacher."
Jakob seufzte. Er sah auf das Buch.
"Es ist deine Entscheidung", betonte Marcel. "Sie war deine Schwester."
"Sie würde es verstehen", murmelte Jakob. "Hätte sie gewusst, dass das Tagebuch noch einmal nützlich wird, hätte sie es durch die gesamte Apokalypse mitgeschleppt. Aber bevor wir es verkaufen, will ich es lesen."
"Du findest sicherlich auch jemanden, der es dir kopiert." Marcel stand auf und klopfte Jakobs Schulter. "Nimm dir alle Zeit, die du brauchst."
Er kehrte zur Dachbodentreppe zurück, Valea folgte ihm. Sie stiegen die knarzenden Stufen hinunter in die Tiefe.
Sie hatten gefunden, was sie in diesem ehemaligen Versteck gesucht hatten. Die letzten Zeugnisse einer untergegangenen Welt.
Einer Welt im Krieg gegen außerirdische Monster und eine tödliche Seuche. Eine Welt voller schwieriger Tage und falscher Entscheidungen, deren größte Helden selbst die größten Monster waren.
Eine Welt der Narren.
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Das ist natürlich kein Zwang und du solltest das nur tun, wenn du gerade etwas entbehren kannst.
So oder so bedanke ich mich vielmals für's Lesen!