- Start: 10.10.2020 - 12:42 Uhr
- Ende: 10.10.2020 - 13:05 Uhr
Ganz zu Beginn hatten sie einen Hund gehabt. Lucky Charles.
Martha, Jakob und ihre Mutter hatten Lucky Charles hinter einem Dönerladen entdeckt. Es war vier, fünf Tage nach Beginn des Krieges gewesen und die Hunde hatten sich um die Reste hinter dem Fast Food Laden gestritten.
Die Familie Wagner war von einem Supermarkt vertrieben worden, als dort Schneidarme aufgetaucht waren. Zwar waren sie entkommen, aber alle drei hatten seit Tagen nichts mehr gegessen und nur wenig getrunken. Due Hunde hatten sie mit Steinen und Schreien vertrieben und dann die Reste vom Boden geklaubt und aus den Plastikverpackungen geleckt, knurrend, kämpfend und einander stoßend wie Tiere.
Nach dem Fressrausch hatten sie Lucky Charles entdeckt. Ein zottiger, erschöpfter Haufen Hund, der seinen Artgenossen und dann den Menschen unbeteiligt beim Fressen zugesehen hatte. Ein kleiner Collie-Mischling, der zu entkräftet war, um zu kämpfen. Ein Biss an seinem Vorderbein hatte sich entzündet.
Es war noch etwas von dem Essen übrig gewesen, das sie mit Lucky Charles geteilt hatten. Sie hatten ihn an einen Fluss gebracht, wo er trank und sie seine Wunde reinigten.
Von da an waren sie zu viert weitergezogen. Damals hatten sie immer noch versucht, in die Innenstadt vorzudringen, wo Helmut gearbeitet hatte, Marthas und Jakobs Vater. Doch dort, zwischen den Hochhäusern, waren die größten Papageien unterwegs, so gewaltige Tiere, dass der Boden unter ihren Schritten erbebte. Schwärme und Panzerhörner hatten jeden Menschen aufgespürt. Doch bis sich Familie Wagner davon überzeugen ließ, dass sie Helmut nicht mehr finden würden, waren sie zu tief in das Gebiet der Aliens eingedrungen.
Manchmal - aber im letzter Zeit immer seltener - träumte Martha noch von diesem Tag. Spürte ihren Körper rennen, als würde er von jemandem ferngesteuert. Umklammerte Jakobs Hand und riss ihn mit sich. Ihn, der stärker war als sie und zurückbleiben wollte.
"Lauft!", brüllte ihre Mutter ihnen nach. "Schneller!"
Martha gehorchte. Dieses Erlebnis brannte sich tief in ihre Seele. Nie wieder seitdem akzeptierte sie einen Befehl von jemand anderem. Nicht seit dem Tag, als ihre Mutter ihr befohlen hatte, sie zurückzulassen. Ihr eigenes Leben und das ihres Bruders zu retten.
Lucky Charles war danach ihre Stütze. Er fand Essen für sie. Wasser. Er warnte sie vor Angreifern. Er machte all die Aufgaben, die Martha noch nicht übernehmen konnte, weil sie wie gelähmt war. Immer nur hörte und sah, wie ihre Mutter auf dem Dach einbrach, wie das Blut hervorschoss, dass die Piranhas anlocken würde. Wie sich der Himmel verdunkelte. Wie sie Jakobs Hand nahm und rannte. Rannte, solange die Piranhas abgelenkt waren, so lange, bis sie außer Gefahr waren.
Sie zogen blindlings fort von der Stadt. Es war Winter gewesen. Sie hatten kaum Nahrung gefunden. Zwei Vollwaisen im Krieg, auf der Flucht, an ihrer Seite nur einen Streuner. Die härteste Zeit ihres Lebens. Doch Martha hatte durchgehalten, für sich und für Jakob. Drei Monate lang hatte sie ihn förmlich durchgehend von der Stadt weggeschleift, weg von ihrer Mutter, bis er endlich verstand, dass sie niemanden mehr würden retten können.
Auch jetzt hielt sie Jakob fest, hielt ihn zurück, während die Wächter des Clans Cora auf die Tribüne zerrten. Man hatte Martha, Jakob und Marcel zur Basis beordert, um dem Prozess beizuwohnen.
Coras Schreie hallten über die Köpfe der Menge. "Nein! Bitte ... es war nur ein Brot! Mein Bruder braucht es!"
In der Menge entdeckte sie Martha. Ihr Blick bohrte sich in Marthas Augen und in ihre Seele.
'Bitte ... hilf mir!', flehte Cora stumm.
Doch Martha rührte sich nicht. Sie hielt nur Jakob fest. Eine Quarantänezone um ihr Herz, das war es, was sie stark machte. Sie musste überleben. Das war alles, was zählte.
"Lass mich los!", brüllte Jakob. "Coraaa!"
"Tod durch Hängen!", verkündete der Wächter, der den 'Prozess' leitete. Cora sackte in sich zusammen, kraftlos, wie eine Marionette, deren Fäden durchtrennt worden waren. Jakob brüllte wortlos.
Martha wusste, dass man sie beobachtete. Ein Fehler, und sie und Jakob wären die nächsten, die hängen würden.
Das würde sie nicht zulassen. Und dafür würde sie alles opfern.
Ihre Gedanken drifteten fort von der Szene und zurück in den ersten Winter des Krieges.
Fast zwei Wochen ohne Essen. Nur Lucky Charles hatte einige Mäuse fangen können. Ein Straßenhund eben, der wusste, wie man überlebte.
Ihr einziger Besitz waren Decken gewesen. Ohne wären sie erfroren. Doch nur von in den Händen geschmolzenem Schnee, den sie tranken, und der zweifelhaften Wärme im Zelt konnte man nicht leben.
Martha hatte das Messer genommen und war zu Lucky Charles gegangen.
"Sitz", hatte sie gesagt. Und dem Hund dann mit einem kräftigen Schnitt die Kehle geöffnet.
Jakob hatte sie gesagt, dass der Hund weggelaufen wäre. Ihr Bruder hatte nie gefragt, woher sie das Fleisch hatte. Er hatte auch nie nach seinem Hund gesucht. Er hatte das kaum gebratene Fleisch einfach schweigend gegessen.
Ungefähr zu jener Zeit hatte er auch letztendlich eingesehen, dass ihre Mutter tot war, und sich nicht mehr gegen ihre Reise fort von den Siedlungen gesträubt.
Die härteste Zeit ihres Lebens. Eines Lebens, für das Martha unzählige Opfer erbracht hatte.